Das Bernstein-Teleskop
übrig, als das größere Risiko eingehen. Er wartete, bis eine stinkende Wolke von der gelben Oberfläche aufstieg, dann stieß er sich vom Boden ab und mitten in die Wolke hinein.
Vier Augenpaare an verschiedenen Orten am Himmel sahen die kurze Bewegung, sogleich schlugen vier Flügelpaare machtvoll auf die stinkende Luft ein, und vier Späher jagten eilends auf die Wolke zu.
Dann begann eine Jagd, bei der die Verfolger das Opfer nicht sahen und das Opfer überhaupt nichts sah. Wer als Erster auf der anderen Seite des Sees aus der Wolke auftauchte, würde im Vorteil sein, und das konnte je nachdem Überleben oder eine erfolgreiche Jagd bedeuten.
Zum Unglück für den einzelnen Flieger tauchte er einige Augenblicke nach dem Ersten seiner Verfolger aus der Wolke auf. Dunstschleier hinter sich herziehend und benommen von den üblen Ausdünstungen fielen die beiden übereinander her. Zunächst schien das Opfer überlegen, doch dann tauchte ein zweiter Jäger auf und ein noch heftigerer Kampf entbrannte. Wie Flammen bogen und krümmten sie sich in der Luft, stiegen auf, fielen hinunter und stiegen wieder auf, um zuletzt über den Felsen am anderen Ende des Sees wieder hinunterzufallen. Die anderen beiden Jäger tauchten nie aus der Wolke auf.
Am westlichen Ende des gezackten Gebirges stand auf einem Gipfel mit einem weiten Rundblick auf die Ebene am Fuß der Berge und die Täler dahinter eine Festung aus Basalt. Sie schien aus dem Berg zu wachsen, als habe ein Vulkan sie vor einer Million Jahre ausgespuckt.
In gewaltigen unterirdischen Kammern unter den hoch aufragenden Wällen lagerten sorgsam beschriftete Vorräte aller Art. In Arsenalen und Magazinen wurden Kriegsmaschinen geeicht, geladen und getestet. In Schmieden am Fuß des Berges loderten wilde Feuer in gewaltigen Öfen, in denen Phosphor und Titan geschmolzen und zu nie da gewesenen und verwendeten Legierungen verbunden wurden.
An der offensten Flanke der Festung, dort, wo die Basaltmauern senkrecht aus den uralten Lavaströmen stiegen, befand sich tief im Schatten eines mächtigen Strebepfeilers ein kleines Tor, an dem ein Posten Tag und Nacht Wache hielt und jeden anrief, der die Festung betreten wollte. Droben auf den Wällen wurde die Wache abgelöst. Der Posten am Tor stampfte ein paar Mal mit den Füßen auf und schlug sich mit den behandschuhten Händen auf die Oberarme. Die kälteste Stunde der Nacht war angebrochen, und die kleine Naphthalampe auf dem Sockel neben ihm gab keine Wärme ab. Seine Ablösung war in zehn Minuten fällig. Er freute sich schon auf den Becher Chokolatl, die Tabakblätter und vor allem sein Bett. Nicht im Traum hätte er erwartet, dass jetzt jemand an die Tür klopfte.
Trotzdem war der Soldat sofort hellwach. Er schob das Guckloch auf und öffnete den Hahn, der Naphtha an der Lampe draußen vorbeiströmen ließ. In ihrem grellen Schein erkannte er drei Gestalten mit Kapuzen. Sie trugen eine vierte Gestalt, die nur verschwommen zu sehen war und krank oder verwundet erschien. Der Erste schob die Kapuze zurück. Der Mann war dem Posten bekannt, nannte aber trotzdem die Parole und fügte hinzu: »Den haben wir am Schwefelsee gefunden. Er sagt, er heiße Baruch und habe eine wichtige Mitteilung für Lord Asriel.«
Der Wächter schob den Riegel zurück und öffnete das Tor. Sein Dæmon in Gestalt eines Terriers zitterte, während die drei Männer ihre Last mit Mühe durch den engen Durchlass schafften. Der Dæmon begann unwillkürlich leise zu winseln, verstummte jedoch abrupt, als der Posten sah, dass der Verwundete ein Engel war, einer von niedrigem Rang und mit geringer Macht zwar, aber dennoch ein Engel.
»Legt ihn in die Wachstube«, wies er die Männer an. Sie taten wie geheißen, und er drehte an der Kurbel der Telefonklingel und erstattete dem wachhabenden Offizier Meldung.
Auf dem höchsten Wall der Festung stand ein Turm aus Diamant. Eine kurze Treppe führte zu einigen Zimmern mit Fenstern nach Norden, Süden, Osten und Westen. Im größten Zimmer standen ein Tisch, Stühle und eine Kartentruhe, in einem anderen ein Feldbett. Ein kleines Badezimmer vervollständigte die Wohnung.
Lord Asriel saß im Diamantturm dem Hauptmann seiner Spione gegenüber. Auf dem Schreibtisch zwischen ihnen lag ein Wust von Papieren, über dem Tisch hing eine Naphthalampe und in einer flachen Pfanne brannten Kohlen gegen die bitterkalte Nacht. Auf dem Mauervorsprung neben der Tür hockte ein kleiner blauer
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