Das Bernstein-Teleskop
sondern als Bauleute gekommen.«
»Und will er das Himmelreich angreifen?«
Ogunwe sah sie gelassen an.
»Es ist nicht unsere Absicht, das Himmelreich anzugreifen«, sagte er, »aber wenn das Reich bei uns eindringt, muss es sich auf Krieg gefasst machen. Wir sind dazu bereit. Mrs. Coulter, ich bin ein König, doch setze ich meinen ganzen Stolz daran, mit Lord Asriel eine Welt zu bauen, in der es keine Reiche mehr geben wird. Keine Könige, keine Bischöfe, keine Priester. Seit der Allmächtige sich über die übrigen Engel erhoben hat, ist das Himmelreich unter diesem Namen bekannt. Wir wollen daran nicht teilhaben. Diese Welt hier ist anders. Wir wollen die freien Bürger der Republik des Himmels sein.«
Mrs. Coulter wollte noch mehr sagen und all die Fragen stellen, die ihr auf der Zunge lagen. Doch der König setzte sich wieder in Bewegung, da er Lord Asriel, seinen obersten Feldherrn, nicht warten lassen wollte, und so blieb der Frau nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.,
Die Treppe führte so weit in die Tiefe, dass bereits beim Erreichen des ersten Untergeschosses der Himmel über dem obersten Treppenabsatz nicht mehr zu sehen war. Lange bevor sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, wurde Mrs. Coulter der Atem knapp, doch sie beklagte sich nicht und ging weiter, bis sich vor ihnen eine große Halle öffnete, die von schimmernden Kristallen an den tragenden Säulen erleuchtet wurde. Durch den halbdunklen Raum zogen kreuz und quer Leitern, Montagetürme, Balken und Laufbühnen, auf denen sich emsig Arbeiter bewegten.
Lord Asriel sprach gerade mit seinen Kommandeuren, als Mrs. Coulter zu ihnen stieß. Ohne ihr eine Verschnaufpause zu gönnen durchquerte er die große Halle, wo hin und wieder eine helle Gestalt durch die Luft schwebte oder sich auf dem Fußboden niederließ, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Die Luft war stickig und warm. Mrs. Coulter be merkte, dass an jeder Säule, vielleicht aus Höflichkeit gegenüber Lord Roke, in Kopfhöhe eine Stange für den Falken angebracht war, damit sich der Gallivespier bequem an den Gesprächen beteiligen konnte.
Doch sie blieben nicht lange in der großen Halle. Am anderen Ende öffnete ein Arbeiter ein schweres Flügeltor, durch das sie auf einen Bahnsteig gelangten. Dort wartete ein Zug mit einem geschlossenen Waggon auf sie, der von einer anbarischen Lokomotive gezogen wurde.
Der Zugführer verbeugte sich und sein brauner Affen-Dæmon verkroch sich beim Anblick des goldenen Affen hinter den Beinen des Mannes. Lord Asriel sprach kurz mit dem Lokomotivführer und geleitete dann die anderen in den Waggon, der wie die Halle durch aufgesteckte Kristalle beleuchtet wurde. Diese hatte man in silbernen Halterungen an den polierten Mahagonipaneelen angebracht. Sobald sich Lord Asriel zu ihnen gesellt hatte, setzte sich der Zug in Bewegung, glitt vom Bahnsteig in einen Tunnel und gewann rasch an Fahrt. Nur das Geräusch der Räder auf den Gleisen vermittelte eine Vorstellung von ihrer Geschwindigkeit.
»Wohin fahren wir?«, fragte Mrs. Coulter.
»Zu den Rüstungsfabriken«, beschied Lord Asriel sie knapp, um sich sogleich wieder dem Gespräch mit dem Engel zu widmen.
Mrs. Coulter fragte Lord Roke: »Mylord, werden Ihre Spione stets in Paaren ausgesendet?«
»Warum fragen Sie?«
»Reine Neugierde. Mein Dæmon und ich haben neulich in der Höhle eine Patt-Situation erlebt, als wir an die beiden Spione gerieten. Es war verblüffend zu sehen, wie gut die beiden kämpfen konnten.«
»Wieso verblüffend? Haben Sie etwa erwartet, dass Wesen unserer Größe sich nicht zu wehren wüssten?«
Sein unbändiger Stolz entging ihr nicht, dennoch schaute sie ihn kühl an.
»Nein«, sagte sie, »ich dachte, wir würden leichtes Spiel mit ihnen haben, aber dann hätten sie uns um ein Haar besiegt. Ich gebe meinen Irrtum gern zu. Aber kämpfen Gallivespier immer in Paaren?«
»Sie sind doch auch ein Paar, Sie und Ihr Dæmon. Dachten Sie, wir würden uns diesen Vorteil entgehen lassen?« Sein hochmütiger Blick aus Augen, die sogar im sanften Licht der Kristalle funkelten, verbot ihr, weitere Fragen zu stellen. Sie senkte bescheiden den Blick und sagte nichts.
Mehrere Minuten vergingen, in denen Mrs. Coulter spürte, dass der Zug weiter abwärts fuhr, immer tiefer ins Innere des Berges hinein. Sie konnte schlecht abschätzen, wie weit sie schon gefahren waren, aber nach ungefähr einer Viertelstunde drosselte der Zug seine Geschwindigkeit. Bald darauf
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