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Das Bernsteinerbe

Das Bernsteinerbe

Titel: Das Bernsteinerbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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der Berührung mit ihm.
    »Pass doch auf!«, riss sie eine wütende Stimme aus ihren Träumereien. Erschrocken fuhr sie zusammen. Direkt vor ihr kauerte ein altes Weib mit einem Korb voller Eier auf dem Boden. Es fehlte nicht viel, und sie wäre mitten hineingestapft.
    »Schon gut, Mütterchen, ist ja nichts passiert«, beruhigte Hedwig die Alte und steckte ihr eine Münze zu. Gleich wurde das Weib freundlicher.
    »Ich bete für dich und deine Seele, mein Täubchen«, raunte sie und sah Carlotta eindringlich an. Die wich zurück, sobald sie des Gesichts gewahr wurde: Ledrige Haut überspannte die unzähligen Runzeln, ein dicker Narbenwulst wölbte sich über eine leere Augenhöhle. Die Frau hatte sie schon einmal gesehen, drüben in der Schmiedegasse, nah Keplers Haus. Sie schluckte. Die Alte zwinkerte mit dem noch vorhandenen Auge. »Mögen dir und deinem Bräutigam die Heiligen allzeit beiseitestehen auf eurem schweren Weg.«
    »Es reicht«, raunzte Hedwig und zog Carlotta weiter. »Gib nichts auf das Geschwätz. Nur weil eine aussieht wie eine Weise, muss sie nicht wirklich eine sein.«
    Als sie um die nächste Ecke bogen, wurde Carlotta wieder leichter zumute. Schon von weitem war der hoch aufragende Turm des Rathauses zu erspähen. Das Gedränge an diesem Vormittag ging weit über den sonst üblichen Auftrieb der Mägde und Hausfrauen hinaus.
    »He, ihr da, aus dem Weg!«, plärrte ein Stadtknecht und schob mit seiner Pike zwei Frauen fort, die schwatzend vor einer Bude stehen geblieben waren. »Was soll das? Man wird doch wohl noch ein Schwätzchen …« Zu mehr kam die Frau nicht. Ein zweiter Stadtknecht rollte bereits einen mit Fässern beladenen Karren vorbei. Gerade noch konnte sie beiseitespringen, sonst hätte ihr der Bursche die eisenbeschlagenen Räder rücksichtslos über die Füße gerollt. Kopfschüttelnd sah sie den Männern nach. Kaum waren sie aus ihrem Blickfeld verschwunden, setzte sie ihren Schwatz fort, als wäre nichts geschehen.
    Im Vorbeigehen schnappte Carlotta den Namen Grohnert sowie das Wort »Bernsteinessenz« auf. Sobald sie auf gleicher Höhe mit den Frauen war, verstummten sie. Aus den Augenwinkeln meinte Carlotta, ein hämisches Grinsen auf dem Gesicht der Jüngeren zu entdecken. Die andere dagegen sah rasch beiseite. Die Gesichter kamen Carlotta bekannt vor. Die rauhen, roten Hände der Größeren bestätigten ihre Vermutung. Es handelte sich um die Waschfrau, die einmal im Monat ins Haus kam. Für Anfang nächster Woche war sie wieder einbestellt. Als sie auf die beiden zutreten und sie zur Rede stellen wollte, zupfte Hedwig sie am Ärmel. »Schau nur, Liebes, die Bäuerin dort vorn will unbedingt ihren letzten Kürbis loswerden. Da machen wir einen guten Preis.« Beharrlich hielt sie Carlotta fest, lotste sie geschickt zwischen den umhereilenden Menschen hindurch. »Vergiss das Geschwätz«, raunte sie ihr ins Ohr. »Du kennst doch den Spruch mit den Waschweibern, die immerzu tratschen und die Dinge dabei dick aufblähen wie der Sturm das Segel. Der kommt nicht von ungefähr.«
    Bevor Carlotta etwas erwidern konnte, erreichten sie die Bäuerin. Ein gutes Dutzend Kürbisse in den verschiedensten Farben und Formen türmten sich zu ihren Füßen. In der Tat verkaufte sie das Gemüse zum halben Preis. Dafür verrieten die ersten dunklen Flecken, dass der Frost bereits daran genagt hatte. Dessen ungeachtet lud Hedwig gleich vier der langhalsigen Stücke in Carlottas Korb und erspähte kurz darauf die nächste Gelegenheit, an einer Bude mit Waldhonig günstig einzukaufen.
    »Sieh nur, dahinten beim Krämer gibt es heute preiswert Gewürze«, krähte sie begeistert. »Wird auch Zeit für ihn einzusehen, dass eine Handvoll schwarzer Pfeffer nicht so viel wie ein Säckchen Bernstein kosten darf.«
    Eilig raffte sie die schweren Röcke, um über tiefe Pfützen hinweg zur Krämerbude zu gelangen. Nicht einmal der Zeitungsjunge, der mit einem dicken Packen Papier auf dem Arm über den Platz kam, konnte sie aufhalten. Dabei drängten sich alsbald die Neugierigen um ihn. Er kam gar nicht dazu, die Überschriften der Nachrichten auszurufen, schon wurden ihm die Blätter aus der Hand gerissen. Carlotta versuchte, einen Blick auf die fettgehaltenen Lettern zu werfen, meinte die Worte »Festung«, »Haft«, »Kolberg« und den Namen Roth zu entziffern. In ihrem Kopf brodelte es. Letztlich konnte das bedeuten, dass Mathias mitsamt seinen Dragonern den gefangenen Schöppenmeister aus der Stadt

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