Das Bernsteinerbe
Fuß aufstampfen wie ein trotziges Kind. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit hatte sie das Bedürfnis, gegen Hedwig aufzubegehren. Wenigstens war Lina dieses Mal nicht zugegen, so dass sie die Vermutung, das Mädchen habe sie verhext, schnell wieder beiseiteschob.
Die Köchin indes reagierte ganz anders als bei ihrem letzten Zusammenstoß. Ruhig blieb sie vor ihr stehen und sah ihr in die Augen. »Wenn du es nicht selbst siehst, muss ich es dir sagen: Du bist die geborene Wundärztin. Mit Leib und Seele kurierst du deine Patienten. Und genau das fehlt dem jungen Doktor Kepler. Die wahre Berufung zum Medicus hat er einfach nicht, da kann der ehrwürdige Vater Gott, den Allmächtigen, darum anflehen, so inbrünstig er will.«
»Worauf willst du hinaus?« Forschend betrachtete Carlotta Hedwigs Gesicht, studierte die Falten um die Augen, die tiefen Furchen beidseits des Mundes. Gelassen hielt die Köchin der Musterung stand, zuckte nicht mit der Wimper.
»Von dir ist es klug, dich an den jungen Kepler zu halten. Immerhin hat er nicht nur an der Königsberger Albertina, sondern auch in Italien, Frankreich und Deutschland studiert. Da kommt trotz aller Narretei einiges an Wissen zusammen, was er an dich weitergeben kann. Außerdem heißt es, der alte Stadtphysicus besitze eine riesige Bibliothek mit all den gelehrten Schriften. Das eine oder andere Buch wird er dir daraus wohl besorgen können.« Schon schöpfte Carlotta Luft und wollte etwas dazu einwerfen, da gebot Hedwig ihr mit einer Handbewegung Schweigen. »Mir kannst du nichts vormachen, mein Kind. Wenn du den jungen Kepler heiratest, kannst du dich endlich selbst mit der gelehrten Medizin beschäftigen. Als Frau eines Medicus hast du nicht nur unbeschränkten Zugriff auf all das Wissen deines Mannes, sondern wirst ihm ebenso mit Rat und Tat zur Seite stehen, erst recht mit deinen Vorkenntnissen aus der Wundarznei. Es gibt Berichte, dass in manchen Städten Frauen gemeinsam mit ihren Männern als richtige Ärztinnen Patienten behandeln. Das auch hier in Königsberg zu erreichen, wäre so ganz nach deinem Geschmack, nicht wahr?«
»Warum nicht?« Carlotta zuckte mit den Schultern und tat, als wäre ihr der Gedanke neu. Scheinbar gelangweilt, griff sie nach dem Federkiel auf dem nächstbesten Pult, begutachtete den Zustand der Spitze. »Was stört dich daran, wenn die Gemahlin eines Arztes ihren Mann bei seiner Tätigkeit unterstützt wie die Ehefrau eines Kaufmanns, die mit ihrem Mann das Kontor führt? Oder die Frau eines Goldschmieds, die nicht nur die Preziosen im Laden verkauft, sondern auch das eine oder andere Stück selbst anfertigt, ganz zu schweigen von den Bauersleuten, die jahraus, jahrein gemeinsam das Feld bestellen?«
In wenigen Schritten war Carlotta bei dem trutzigen Regal aus dunklem Holz, das die gesamte rückwärtige Wand des Kontors einnahm. Eingehend betrachtete sie die dickbäuchigen Kontorbücher, die sich dort aneinanderreihten. Darunter befanden sich nicht nur Aufzeichnungen aus der Zeit ihres verstorbenen Großonkels Paul Joseph Singeknecht und seiner Eltern und Großeltern. Die ältesten Bücher datierten sogar von weit entfernten Ahnen aus längst vergangenen Jahrhunderten – ein beeindruckender Beweis der Tüchtigkeit des Kaufmannsgeschlechts, das seit zahlreichen Generationen in der Stadt am Pregel wirkte.
»Natürlich stört mich nichts daran«, stimmte Hedwig zu und ließ die wachen Augen ebenfalls über die beeindruckende Reihe Bücher wandern. Schließlich verharrte sie an deren vorläufigem Ende. Dort war noch Platz für weitere Jahrgänge. »Eheleute sollen im Tagesgeschäft treu zusammenstehen und für das gemeinsame Wohl arbeiten. Doch das allein darf nicht ausschlaggebend für die Heirat sein, mein Kind, gerade wenn beiden von ihren Familien die freie Wahl zugestanden wird. Dann sollten sie genau überlegen, warum sie sich füreinander entscheiden. Die Ehe ist weitaus mehr als ein gemeinsames Tätigsein im selben Beruf.«
Carlotta erstarrte und tastete nach dem Bernstein. Den warmen Amber zu spüren, tat gut. Hedwig trat zu ihr. Carlotta sog den vertrauten Duft nach Lavendel und Küchengerüchen ein, den die in helles Leinen gewandete Köchin ausströmte. Gern hätte sie sich in ihre Arme geworfen, den Kopf in dem riesigen, weichen Busen vergraben und alles andere um sich herum vergessen. Aber die Zeiten, in denen sich Angelegenheiten auf diese Weise regeln ließen, waren leider vorbei.
»Ein Leben an der Seite
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