Das Bildnis der Novizin
schwankte und fiel zu Boden, wo er in tausend Scherben zerbarst.
Lucrezia sortierte die Blätter der Osterluzei, doch mit ihren Gedanken war sie bei dem Kaplan und dem Mann, der heute Vormittag zu ihr in den Garten gekommen war. Fra Filippo war ein großer Maler und ein Mensch, dem man mit Respekt und Ehrerbietung begegnete. Doch dieser Mann, der heute im Garten gewesen war, dieser Mann war wahrlich einschüchternd, und sie fürchtete um den Maler.
»Du kommst heute gut voran«, bemerkte Schwester Pureza.
Lucrezia hielt kurz inne und blickte auf, um ihre Mentorin zu begrüßen.
»Du kannst dich glücklich schätzen, dass du die Psalmen noch nicht mitsingen musst«, sagte Schwester Pureza. »Es ist so lästig, jedes Jahr neue auswendig lernen zu müssen, und bis Weihnachten hat man sie wieder vergessen.«
Die alte Nonne ließ sich neben Lucrezia auf die Bank sinken und begann ebenfalls mit dem Verlesen der Osterluzei. Sie hatte geschwollene Handgelenke und alte, abgearbeitete Hände, die nicht mehr so flink und beweglich waren wie Lucrezias. Dennoch wussten ihre Finger genau die beste Stelle zu finden, an der das Blatt vom Strauch abgeknickt werden musste. Schon bald fielen die beiden in einen geruhsamen, friedlichen Rhythmus und Lucrezia begann sich zu entspannen.
»Vollmond heute«, bemerkte Schwester Pureza nach geraumer Weile. Lucrezia blickte auf. Ja, tatsächlich, da stand die weiße Scheibe des Mondes am Taghimmel. Nachts, durchs schmale Fenster ihrer Zelle, hatte sie nur einen Ausschnitt davon gesehen. »Das Valenti-Kind soll heute Nacht kommen, habe ich gehört.«
»Ach ja?«, fragte Lucrezia interessiert.
»Ich habe, bevor ich ins Kloster eintrat, eine Ausbildung als Hebamme gemacht. Nach der dunklen Zeit«, Schwester Pureza schlug beim Gedanken an die Pest hastig das Kreuzzeichen, »sind nur noch wenige von uns übrig geblieben. Man hat mich seitdem oft zu besonders schwierigen Geburten geholt.«
Sie hatte beim Sprechen nicht mit ihrer Arbeit aufgehört. »Signora Teresa de Valenti und ihr Mann sind großzügige Förderer des Klosters, und dies ist die siebte Geburt der Dame des Hauses.«
Lucrezia musste an die grässlichen Schreie denken, die ihre Schwester während der Geburtswehen ausgestoßen hatte. Ein Schauder überlief sie.
»Ich werde die Osterluzei brauchen und auch Süßholzwurzel. Und ich brauche jemanden, der mir hilft«, fuhr Schwester Pureza fort. »Ich werde dich mitnehmen.«
Lucrezia schnappte nach Luft und ließ einige Blätter fallen.
»Aber ich habe doch keine Ahnung von Geburtshilfe«, rief sie erschrocken aus. »Ich weiß nichts.«
»O doch. Du hast bereits einiges gelernt.« Schwester Pureza wies auf die heruntergefallenen Blätter. »Osterluzei gegen die Blutung. Eisenkraut zur Beruhigung. Salbei zur Reinigung. Wintergrün gegen die Schmerzen.«
»Aber es gibt doch noch so viel mehr zu wissen«, stöhnte Lucrezia, der ganz schwindelig geworden war. »Ich weiß nur so wenig.«
»Dann wirst du es lernen«, sagte Schwester Pureza ungerührt. »Bei einer Geburt dabei zu sein ist meiner Meinung nach ein heilsamer Schock für eine junge Frau. Auch für eine, die Nonne werden will.«
In diesem Moment sah Lucrezia etwas Weißes jenseits der Gartenmauer aufblitzen. Sie riss sich von Schwester Purezas bohrendem Blick los und reckte den Hals, gegen ihren Willen hoffend, einen Blick auf Fra Filippo erhaschen zu können. Schwester Pureza, die sogleich merkte, dass ihr junger Schützling ihr nicht mehr zuhörte, folgte ihrem Blick. Aber es war nicht Fra Filippo. Der Mann trug eine schwarze, mit Weiß abgesetzte Robe. Raschen, ja zornigen Schritts strebte er dem Refektorium entgegen.
»Das ist der Generalabt«, sagte Schwester Pureza und reckte den Hals, um über die Gartenmauer spähen zu können. Sie sahen den Mann auf das Büro der Äbtissin zugehen. »Ich habe heute Vormittag seine Kutsche gesehen.«
»Ja, er traf ein, als ihr eure Psalmen übtet«, erklärte Lucrezia. »Mutter Bartolommea hat ihn mir im Garten vorgestellt.«
»Der Generalabt in meinem Garten?«
Schwester Pureza konnte den Generalabt nicht besonders leiden. Er blieb immer viel zu lange, hockte nach den Mahlzeiten ewig im Refektorium herum und logierte tagelang in den Gästeräumen des Klosters, um mit den Würdenträgern der Stadt zu konferieren. Kurz gesagt, dem Mann war weit mehr an weltlicher Macht gelegen als an der gebotenen Frömmigkeit und Demut eines Geistlichen. Und das war, wie Schwester Pureza in
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