Das Bildnis der Novizin
Der Generalabt ist ein mächtiger Mann, sein Ruf ist unantastbar. Aber die Hände, die die Geschicke des Klosters lenken, sind ohnehin mächtigere.«
Die Äbtissin nahm den Gürtel ab und drehte sich wieder um.
»Verschwinde!«, rief die Äbtissin laut. »Ich bin deine Oberin und ich befehle dir, dich aus meiner Kammer zu entfernen!«
Schwester Pureza verbrachte die Morgenstunden bis zur Dämmerung im Gebet vor Lucrezias Zelle. Die junge Frau ging drinnen rastlos auf und ab. Als sie kurz vor der Prima das Wiehern eines Pferdes hörte und das Öffnen des Klostertors, eilte sie rasch zum Ende des Gangs und blickte aus dem Fenster.
Es war ein Bote der Medici, dessen prächtiges Pferd vor dem Büro der Äbtissin auf und ab tänzelte. Sie beobachtete, wie die Äbtissin auf den Boten zutrat und ihm einen Samtbeutel aushändigte. Die Reliquie, vermutete Schwester Pureza.
Lucrezia blieb während des Morgengebets in ihrer Zelle, doch Schwester Pureza stellte sich dickköpfig neben die Äbtissin und hielt während des Gesangs ihre Augen offen, selbst als die Mutter Oberin die ihren demonstrativ schloss.
Der Generalabt verließ die Kirche, kaum dass die letzte Zeile verklungen war. Schwester Pureza fand ihn allein im Refektorium, wo er ungerührt ein Frühstücksei aß und ihr kühl entgegensah.
Schwester Pureza ging auf ihn zu, machte eine nicht allzu respektvolle Verbeugung und schaute dem Mann direkt in die Augen.
»Hier im Kloster, Monsignore, stehen wir Frauen im Dienste des Herrn.« Schwester Pureza wählte ihre Worte mit Bedacht. »Wir müssen uns in diesem Dienst frei bewegen können, ohne Furcht, von einem anderen Geistlichen gestört oder an unserer Arbeit gehindert zu werden.«
Sie hielt inne. Generalabt Saviano starrte sie undurchdringlich an.
»Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte er teilnahmslos.
»Alles«, antwortete sie. Sie fing an, ihm von der nächtlichen Begebenheit im Gang zur Kirche zu erzählen. »Ich bin heute Nacht vor der Laudes aus der Stadt zurückgekehrt, wo die Novizin Lucrezia und ich bei der Geburt des Kindes von Ottavio de Valenti halfen.«
Sie sah, wie der Generalabt die Lippen zusammenkniff, und fuhr hastig fort: »Ihr wisst sehr gut, was danach geschah. Ich werde nicht zulassen, dass …«
Eine feste Hand auf ihrer Schulter schnitt ihr das Wort ab. Schwester Pureza wandte sich um und blickte in das kreidebleiche Gesicht der Mutter Oberin.
»Stör den Generalabt nicht«, sagte die Äbtissin und trat zwischen die beiden.
»Entschuldige, Mutter.« Schwester Pureza versuchte die Äbtissin fortzuschieben. »Aber ich war mitten in einem wichtigen Gespräch mit dem Generalabt.«
Die Äbtissin starrte wütend auf Schwester Purezas Ellbogen, der sich in ihre Seite bohrte.
»Schwester Pureza«, fauchte sie, »du tust mir weh!«
Nun wurden auch die anderen Schwestern auf das Schauspiel aufmerksam. Schwester Pureza sprach daher so leise, dass nur die Äbtissin ihre Worte verstehen konnte. Die beiden Frauen waren zur gleichen Zeit in dieses Kloster gekommen, vor gut fünfzig Jahren, hatten ihre Novizinnenzeit zusammen verbracht, waren gute Freundinnen geworden, ja, hatten sich Kosenamen gegeben. Und einen dieser Namen benutzte Schwester Pureza jetzt, um die Äbtissin an ihre alte Freundschaft zu erinnern.
»Bartolinni, meine gute Freundin. Du musst ihn bitten zu gehen.«
»Also ehrlich, Schwester«, sagte die Mutter Oberin in einem so kalten Ton, als hätte es ihre Freundschaft nie gegeben, »du musst wirklich aufhören mir vorschreiben zu wollen, was ich tun soll.«
Die Äbtissin verspürte zwar einen Stich, als sie sah, wie sehr ihre Worte die alte Freundin kränkten. Doch dann dachte sie sogleich wieder an den Heiligen Gürtel; an das Altarbild der Madonna, auf dem auch sie selbst zu sehen sein würde. Welchen Ruhm das dem Kloster einbringen würde. Wie lange hatte sie, seit sie Äbtissin geworden war, um so etwas gebetet, hatte unzählige Stunden auf den Knien verbracht. Und nun würden sich ihre Träume endlich erfüllen!
Daher schwieg sie, als ihre alte Freundin sich mit feuchten Augen von ihr abwandte und ging.
Aber Schwester Pureza gab sich nicht so schnell geschlagen. Binnen einer Stunde hatte sie sich einen Plan zurechtgelegt.
Sie schrieb einen hastigen Brief an Ottavio de Valenti, in dem sie ihm mitteilte, Lucrezia könne in der nächsten Zeit bei der Pflege von Mutter und Kind helfen. Sie deutete an, wie wichtig es wäre, dass man die Novizin so bald wie möglich
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