Das Bildnis der Novizin
Als sie sah, dass Fra Filippo sich im Hinterzimmer aufhielt und dort mit etwas beschäftigte, packte sie ihre Schwester bei der Hand und zog sie nah an sich heran.
»Bruder Filippo war seit der Feier nicht mehr im Kloster«, wisperte sie. »Ich hab an der Tür gelauscht und gehört, wie die Nonnen von Sant’Ippolito sagten, sie hätten gesehen, wie er dich gegen deinen Willen von der Parade fortzog. Stimmt das?«
Lucrezia schüttelte den Kopf.
»Im Kloster war ich nicht mehr sicher.« Lucrezia streichelte den Arm ihrer Schwester. »Bruder Filippo hat mich hierher gebracht, um mich zu beschützen.«
»Aber du kannst hier nicht bleiben, Lucrezia. Weißt du denn nicht, was man über dich redet?«
Lucrezia wurde rot und biss sich auf die Lippe. Sie schaute ins unschuldige Gesicht ihrer Schwester.
»Es ist etwas Schreckliches passiert.« Nun musste Lucrezia doch mit den Tränen ringen. Sie holte tief Luft, bevor sie weitersprach. »Der Generalabt war sehr grob zu mir.«
Spinetta riss entsetzt die Augen auf.
»Bist du deshalb so überstürzt aus dem Kloster fort?«
Lucrezia nickte.
»Aber er ist doch jetzt weg«, meinte Spinetta. »Er kam gestern, hat seine Sachen geholt und ist ohne ein Wort abgereist.«
»Er war hier, gestern, Spinetta. Als Bruder Filippo im Dom war.« Lucrezia senkte den Kopf, damit ihre Schwester nicht sah, wie zornig, wie verzweifelt sie war. »Der Generalabt kam einfach herein, ich war allein und …«
»Und?«
»Er hat mir Gewalt angetan.«
Spinetta schossen die Tränen in die Augen und sie zog Lucrezia an sich.
»Ist schon gut, Schwester, es ist ja vorbei.« Lucrezia senkte den Kopf und schob ihre Schwester sanft von sich.
»Wir müssen es der Äbtissin sagen«, drängte Spinetta. »Sie wird dafür sorgen, dass der Generalabt bestraft wird.«
Lucrezia schaute sie traurig an. Langsam, mit einer Entschlossenheit, die sich während der Nacht in ihr gefestigt hatte, schüttelte sie den Kopf.
»Nein. Dann stünde sein Wort gegen meins, und ich bin nichts, bloß eine einfache Novizin. Du darfst es niemandem sagen, Schwester. Bruder Filippo hat versprochen, alles in Ordnung zu bringen, und ich vertraue ihm.«
Die beiden jungen Frauen wandten sich zu dem Mönch um, der gerade eine Skizze ans Fenster hielt und so tat, als hätte er von ihrem Gespräch nichts mitbekommen.
»Aber der Generalabt muss bestraft werden!«, rief Spinetta wütend.
»Bruder Filippo hat viele mächtige Freunde. Er hat versprochen, mich aus Prato fortzubringen, sobald er kann. Und bis dahin bleibe ich bei ihm.« Lucrezia sprach hastig. Sie flüsterte Spinetta ins Ohr: »Spinettina, was ich dir jetzt sage, darfst du niemandem verraten! Bruder Filippo wird sich noch heute mit dem Abgesandten der Medici treffen und um Dispens beim Papst ersuchen. Und wenn der Papst und die Kurie zustimmen, dann, das hat er mir versprochen, wird er mich heiraten.«
Spinetta erbleichte. »Aber deine Gelübde!«
Lucrezia blickte ihrer Schwester tief in die Augen.
»Und wenn ich nun ein Kind erwarte? Diese Schande könnte ich nicht ertragen. Bruder Filippo hat mir seine Hilfe angeboten. Und vergiss nicht, meine Liebe, dass ich, anders als du, eigentlich nie ins Kloster wollte.«
»Aber wenn der Papst nicht zustimmt? Das ist doch wahrscheinlich, oder?«
»Ich weiß nicht.« Lucrezia rang die Hände, presste die Lippen zusammen. »Ich weiß nur eins: Ich kann nicht mehr ins Kloster zurück.«
Spinetta warf sich ihrer Schwester schluchzend an den Hals. »Aber Lucrezia! Eine Novizin, die mit einem Mönch zusammenlebt! Das ist eine schreckliche Sünde und eine furchtbare Schande für unsere Familie!«
»Bitte, Spinetta!« Sie schob ihre Schwester von sich und zwang sie, sie anzusehen, ihr zuzuhören. »Spinetta, er sagt, dass er mich liebt«, flüsterte sie. »Und wer will behaupten, dass nicht genau dies Gottes Wille ist?«
Spinetta blickte blinzelnd in Lucrezias verzweifeltes Gesicht. Sie sah das getrocknete Blut auf ihrer Unterlippe.
»Und du? Liebst du ihn auch?«
Lucrezia errötete und biss sich auf die Lippe. Wie konnte sie in Worte fassen, was sie in diesem Moment fühlte: Angst, Scham, Verzweiflung, Dankbarkeit und Liebe?
»Ja.« Sie nickte und blickte in die dunklen Augen ihrer Schwester. »Ja, ich liebe ihn auch.«
»Heilige Maria, Muttergottes, bete für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.« Spinetta schob ihre Hand in die Tasche ihres Habits und holte Lucrezias Silbermedaillon heraus. Sie
Weitere Kostenlose Bücher