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Das Bildnis der Novizin

Titel: Das Bildnis der Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Albanese Laura Morowitz Gertrud Wittich
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geschändet wurde?«
    »Du bräuchtest ihr nicht alles zu sagen, Lucrezia, bloß, dass du Angst hast, wieder ins Kloster zurückzugehen.«
    »Nein.« Sie beugte sich tiefer über die Nadel, mit der sie ihre zerrissene Unterwäsche flickte. Bald konnte sie sie wieder anziehen, aber sie würde nie mehr so aussehen wie vorher. »Ich könnte es nicht ertragen, all die schrecklichen Lügen und Gerüchte hören zu müssen, die man sich draußen über mich erzählt, besonders nicht aus dem Munde der edlen Signora de Valenti.«
    »Lucrezia, bitte verzeih, aber ich habe den Eindruck …« Spinetta musste sich zwingen, weiterzusprechen. »Ich habe den Eindruck, dass du im Grunde gar nicht weg willst , selbst wenn das unseren Ruin bedeutet.«
    Lucrezia verknotete den Faden und biss ihn ab. Sie mochte es kaum vor sich selbst zugeben, geschweige denn vor ihrer Schwester. Aber es stimmte. Sie wollte Fra Filippo nicht verlassen. Nicht nur, weil er sie beschützen wollte, sondern weil ihr seine Liebe und sein Versprechen die Kraft gaben, jeden Morgen aufzustehen. Wenn das eine Sünde war, dann hoffte sie, dass Gott sie ihr vergeben würde.
    Es waren stille Tage und Fra Filippo brachte sie damit zu, Lucrezias Gesicht zu studieren. Die Prellung neben ihrem Auge verblasste, und dort, wo sie sich in die Lippe gebissen hatte, erinnerte nur noch ein dunkelroter Fleck an das Geschehene.
    Aber es hatte sich doch etwas geändert seit dem Tag, an dem das Fest des Heiligen Gürtels gefeiert worden war: Der Schmerz dessen, was sie erlitten hatte, saß in ihren Augen, zeigte sich in der Art, wie ihr Lächeln zögerlicher zum Vorschein kam. Der Ausdruck ihres Gesichts ähnelte in herzzerreißender Weise dem der Madonna, die er immer gesucht hatte. Lucrezia verstand nun, trotz ihrer Jugend, was die Muttergottes ebenfalls erfahren hatte: die Verbindung zwischen Freud und Leid, Tod und Leben, Schwäche und Stärke.
    »Du bist noch schöner geworden als zuvor«, sagte er, während er die Schatten in ihren Augen studierte.
    »Ist das der Grund, warum du mich liebst?«, wollte sie wissen. Sie hatte heute früh ihr Haar gewaschen und trug nun ein schlichtes, helles Kleid, das sie in der Kleidertruhe des Mönchs gefunden hatte. »Liebst du mich, weil ich schön bin?«
    Fra Filippo war in den letzten Tagen einem Wechselbad der Gefühle unterworfen gewesen. Er hatte Wut verspürt, Bedauern und den Wunsch, Rache zu nehmen. Aber stärker als all dies war sein Bedürfnis, Lucrezia zu beschützen, sie zu umsorgen. Ja, er liebte ihre Schönheit. Er hatte die Suche nach Schönheit und das Verstehen von Schönheit zu seinem Lebenszweck gemacht; er wusste daher, dass Schönheit mehr war, als das, was das Auge wahrnahm. So wie seine Bilder durch die vielen Farbschichten übereinander erstrahlten, so stammte auch Lucrezias Schönheit aus einer Quelle, die tief in der Komplexität ihrer Seele zu finden war.
    »Es gibt viele schöne Frauen auf der Welt, aber keine hat mich so berührt wie du«, antwortete er sanft. »Schon bevor ich dich sah, Lucrezia, bewahrte ich dein Antlitz in meinem Herzen.«
    Zum ersten Mal in seinem Leben öffnete sich der Mönch und erzählte von seinen geheimen Ängsten, seiner unglücklichen Kindheit. Er erzählte Lucrezia, wie er als Junge nachts von der Stimme seiner Mutter geträumt habe und morgens allein und einsam auf seiner Pritsche im Kloster Santa Maria del Carmine aufgewacht sei; die Jahre, die er seitdem damit zugebracht habe, diesem Geheimnis, diesem Wunder, auf den Grund zu kommen, es auf Pergament einzufangen.
    »Mein ganzes Leben lang habe ich nach etwas gesucht«, sagte er mit tiefem Ernst und großer Überzeugungskraft. »Ich liebe dich nicht, weil du schön bist. Ich liebe dich, weil du die Antwort auf alles bist, wonach ich suchte.«
    Er kniete vor ihr nieder.
    »Als ich ein junger Mann war, war die Malerei alles, was ich hatte«, erklärte er ruhig. »Sie war alles, was ich hatte, also musste sie mein Lebensinhalt werden.«
    Sie sah, wie sich sein Blick verdüsterte.
    »Im Kloster hat sie mich vor dem Absturz in die Verzweiflung bewahrt. Im Gefängnis, als ich um mein Leben fürchten musste, habe ich mir die Bilder vorgestellt, die ich zu Ehren Gottes malen würde, wenn er mich nur am Leben ließe. Malen war beten; beten war malen. Mit der Zeit gab es keinen Unterschied mehr zwischen dem einen und dem anderen.«
    Lucrezia nickte still.
    »Für mich ist Schönheit gleich Göttlichkeit«, erklärte der Mönch eindringlich.

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