Das blaue Zimmer
waren beide von Natur aus schüchtern. Eine jede hütete sich davor, in die Privatsphäre der anderen einzudringen. Vielleicht wäre es für beide leichter gewesen, wenn kein Baby unterwegs wäre. In einem Monat würde es dasein und in der neuen Wiege in Emilys altem Kin derzimmer schlafen. Ein Wesen, mit dem man rechnen mußte und das neue Ansprüche an die Zuneigung von Emilys Vater stellte.
Emily wollte das Baby nicht. Sie mochte Babys nicht besonders. Einmal hatte sie im Fernsehen gesehen, wie ein Neugeborenes gebadet wurde, und sie war entsetzt gewesen. Es sah aus, als würde jemand eine Kaulquappe baden.
Sie wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können. Wieder zwölf Jahre alt zu sein und nichts mit diesen verstörenden Vor gängen zu tun zu haben. Sie wünschte sich immer, die Zeit zu rückdrehen zu können, deswegen war sie so schlecht in der Schule, deswegen hatte sie bei Wettspielen so kläglich versagt, deswegen war sie sitzengeblieben. Das nächste Schuljahr mußte sie in Gesellschaft von einer Bande jüngerer Mädchen zubringen, mit denen sie nichts gemein hatte. Ihr Selbstver trauen war hoffnungslos ausgehöhlt wie die Steilwand einer Klippe, die zu lange der See und dem Wind ausgesetzt gewesen war, so daß Emily zuweilen das Gefühl hatte, nie wieder eine Entscheidung fällen oder eine Leistung vollbringen zu können.
Aber Grübeln tat nicht gut. Sie mußte dem bevorstehenden Abend entgegensehen. Sie ging die Zufahrt hinauf, und als sie ihre Badesachen draußen auf der Wäscheleine aufgehängt hatte, ging sie durch die Hintertür ins Haus. Die Küche war makellos sauber und aufgeräumt. Die runde, holzgerahmte Uhr über dem Geschirrschrank machte beim Ticken ein Ge räusch wie eine Blechschere. Emily warf die Reste ihres Pick nicks auf den Tisch und ging in die Diele. Die Abendsonne warf einen langen gelben Streifen durch die offene Haustür. Emily blieb in dem warmen Strahl stehen und lauschte. Kein Laut war zu hören. Sie spähte ins Wohnzimmer, aber da war nie mand.
„Stephanie?“
Sie war vermutlich spazierengegangen. Sie ging gern abends spazieren, wenn es kühler war. Emily stieg die Treppe hinauf. Auf dem Podest sah sie die Tür zu dem großen, hellblauen Schlafzimmer offenstehen. Sie zögerte. Drinnen sagte eine Stimme ihren Namen.
„Emily. Emily, bist du’s?“
„Ja.“ Sie überquerte den Treppenabsatz und ging hinein.
„Emily.“
Stephanie lag auf dem schönen Bett. Sie hatte noch ihr baumwollenes Umstandskleid an, aber die Sandalen hatte sie ausgezogen, und ihre Füße waren nackt. Ihr rotgoldenes Haar lag wirr über das weiße Kissen gebreitet, und ihr Gesicht, unge schminkt und voll kindlicher Sommersprossen, war sehr blaß und glänzte von Schweiß.
Sie streckte eine Hand aus. „Ich bin so froh, daß du da bist.“
„Ich war mit Porti am Strand. Ich dachte, du bist spazieren gegangen.“ Emily trat ans Bett, aber Stephanies ausgestreckte Hand nahm sie nicht. Stephanie schloß die Augen. Sie drehte den Kopf von Emily weg, und ihr Atem ging plötzlich langsam und schwer.
„Was hast du?“
Aber sie wußte, was es war. Noch bevor Stephanie sich end lich entspannte und die Augen wieder aufmachte. Sie sahen sich an. Stephanie sagte: „Das Baby kommt.“
„Aber es soll doch erst nächsten Monat kommen.“
„Ich glaube, es kommt jetzt. Ich weiß es. Mir war den ganzen Tag so komisch, und ich wollte nach dem Tee ein bißchen raus, an die Luft, und da kamen die Schmerzen. Da bin ich nach Hause gegangen und hab mich hingelegt. Ich dachte, es geht vielleicht vorüber. Aber es ist schlimmer geworden.“
Emily schluckte. Sie versuchte sich auf alles zu besinnen, was sie jemals übers Kinderkriegen gehört hatte. Viel war es nicht. Sie sagte: „Wie oft kommen die Wehen?“
Stephanie langte nach ihrer goldenen Armbanduhr, die auf dem Nachttisch lag. „Diesmal waren es nur fünf Minuten.“
Fünf Minuten. Emilys Herz klopfte heftig. Sie blickte auf die absurde Schwellung, die Stephanies Bauch war, straffge spannt von einem beginnenden Leben unter dem geblümten, weiten Baumwollkleid. Ohne zu überlegen, legte sie sachte ihre Hand darauf.
Sie sagte: „Ich dachte, beim ersten Kind dauert es ewig, bis es da ist.“
„Ich glaube nicht, daß es da eine feste Regel gibt.“
„Hast du im Krankenhaus angerufen? Hast du den Doktor angerufen?“
„Ich habe gar nichts gemacht. Ich hatte Angst, mich zu be wegen, falls etwas passiert.“
„Ich rufe an“, sagte Emily.
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