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Das blaue Zimmer

Das blaue Zimmer

Titel: Das blaue Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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hast es versprochen.“
    „Aber wir können Gilbert nicht beerdigen. Wir nehmen etwas anderes.“
    „Was? Wen?“
    Anna kannte ihre Schwester gut. „Aber nicht meinen HE MAN“, erklärte sie bestimmt.
    „Nein, natürlich nicht.“ Er überlegte und hatte einen Geistesblitz. „Eine Maus. Eine arme tote Maus. Schaut… “ Mit dem Zeh auf dem Fußschalter hob er den Deckel des Mülleimers, und wie ein Zauberer brachte er mit schwung voller Gebärde Breekys Jagdtrophäe zum Vorschein, indem er den kleinen steifen Körper am Schwanz hielt. „Breeky hat sie heute morgen gebracht, und ich hab sie ihm weggenommen. Ihr wollt doch sicher nicht, daß ein armes Mäuschen im Mülleimer endet? Sie hat bestimmt eine kleine Feier verdient, oder?“
    Sie begafften das Opfer. Nach einer Weile meinte Emily: „Können wir sie in die Zigarrenkiste tun, wie du gesagt hast?“
    „Natürlich.“
    „Und Kirchenlieder singen und alles?“
    „Natürlich. ‘Alle Geschöpfe, groß und klein’. Viel kleiner als diese Maus kann kaum etwas sein. “ Er nahm ein Papiertuch, legte es auf den Geschirrschrank und bettete die Mauseleiche sorgsam darauf. Dann wusch er sich die Hände, und während er sie abtrocknete, sah er die zwei kleinen Mädchen an. „Was sagt ihr dazu?“
    „Können wir es gleich machen?“
    „Lagt uns zuerst frühstücken. Ich bin am Verhungern.“
    Anna ging sogleich zum Tisch, rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich, aber Emily nahm Gilbert noch einmal ganz ge nau in Augenschein. Sie drückte die Nase an die Glaswand des Behälters, ihre Finger malten ein Muster, indem sie Gilberts Bahnen folgten. Bill wartete geduldig. Kurz darauf drehte sie sich zu ihm um. Sie sahen sich lange an.
    Sie sagte: „Ich bin froh, daß er nicht tot ist.“
    „Ich auch.“ Er lächelte, und sie lächelte zurück, und auf ein mal sah sie ihrer Mutter so ähnlich, daß er ohne zu überlegen die Arme ausbreitete, und sie kam zu ihm, und sie nahmen sich in die Arme, ohne Worte. Sie brauchten keine Worte. Er küßte sie auf den Kopf, und sie versuchte sich nicht zu entwinden oder sich aus dieser ersten zaghaften Umarmung zu lösen.
    „Weißt du was, Emily“, sagte er, „du bist ein liebes Mäd chen.“
    „Du bist auch lieb“, sagte sie, und sein Herz war von Dankbarkeit erfüllt, weil er durch Gottes Gnade nichts Falsches ge tan oder gesagt hatte. Er hatte es richtig gemacht. Es war ein Anfang. Nicht viel, aber ein Anfang.
    Emily weitete es aus. „Ganz, ganz lieb.“
    Ganz, ganz lieb. In diesem Fall war es vielleicht mehr als ein Anfang, und er war schon halbwegs am Ziel. Voll Genugtuung umarmte er sie ein letztes Mal, dann ließ er sie los, und in froher Erwartung des Mäusebegräbnisses setzten sie sich endlich hin, um zu frühstücken.

Das Vorweihnachtsgeschenk
     

     
     
     
     
     
     
     
    E s war zwei Wochen vor Weihnachten. An einem düsteren, bitterkalten Morgen fuhr Ellen Party, wie sie es die letzten zweiundzwanzig Jahre an jedem Morgen getan hatte, ihren Ehemann James die kurze Strecke zum Bahnhof, gab ihm einen Abschiedskuß, sah seine Gestalt mit dem schwarzen Mantel und der Melone durch die Sperre verschwinden und fuhr dann vorsichtig auf der vereisten Straße nach Hause.
    Als sie über die langsam erwachende Dorfstraße und dann durch die sanfte Landschaft kroch, flogen ihre Gedanken, die zu dieser frühen Stunde wirr und undiszipliniert waren, in ihrem Kopf herum wie Vögel in einem Käfig. Es gab um diese Jahreszeit immer ungeheuer viel zu tun. Wenn sie das Früh stücksgeschirr gespült hatte, wollte sie eine Einkaufsliste für das Wochenende zusammenstellen, vielleicht Apfelpasteten mit Rosinen backen, ein paar Weihnachtskarten in letzter Mi nute schreiben, ein paar Geschenke in letzter Minute kaufen, Vickys Zimmer putzen.
    Nein. Sie besann sich anders. Sie wollte Vickys Zimmer nicht putzen und das Bett nicht beziehen, bevor sie nicht sicher wußte, daß Vicky Weihnachten bei ihnen sein würde. Vicky war neunzehn. Im Herbst hatte sie in London eine Stelle gefun den und eine kleine Wohnung, die sie mit zwei anderen Mädchen teilte. Die Trennung war jedoch nicht endgültig, denn am Wochenende kam Vicky meistens nach Hause, brachte manchmal eine Freundin mit und jedesmal einen Sack schmut zige Wäsche für Mutters Waschmaschine. Als sie das letzte Mal da war, hatte Ellen angefangen, von Weihnachtsplänen zu sprechen, aber Vicky hatte ein verlegenes Gesicht gemacht und sich schließlich ein Herz gefaßt,

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