Das Blut der Azteken
für besonders kalte Nächte, aber diese hielt er versteckt, denn die Armen stahlen alles, was nicht niet- und nagelfest war.
In den meisten Nächten war es jedoch so stickig und heiß, dass man im Armenhaus kaum atmen konnte. Wenn es regnete, was häufig geschah, tropfte das Wasser überall durch das Dach. War es zu feucht, schlief ich auf dem langen Tisch, an dem die Verhungernden von Veracruz ihre tägliche Abendmahlzeit verzehrten. Da man bei schlechtem Wetter nicht betteln konnte, mussten wir an diesen Tagen noch mehr Mäuler stopfen.
In einer Ecke befand sich eine kleine Feuerstelle. Jeden Tag kam eine Indiofrau und bereitete dort Tortillas, Bohnen und gelegentlich auch Maisbrei zu, die einzigen Lebensmittel, die Bruder Antonio sich leisten konnte. Der Rauch des offenen Feuers stieg zur Decke auf und drang irgendwann durch die Ritzen in Dach und Wänden.
Nur die Bücherregale standen an einem regensicheren Platz.
Ich drehte mich um und betrachtete die Titel auf den Einbänden. Die meisten Bücher hatte Bruder Antonio während seiner Zeit als Dorfpriester von einem Großgrundbesitzer geschenkt bekommen.
Außer dem Wissen, das der Bruder mir mithilfe seiner Bücher vermittelt hatte, besaß ich nur die schmutzige, zerlumpte Hose, in der ich betteln ging, und die kaum saubereren Sachen und die Sandalen, welche ich in der Kirche trug. Hose und Hemd bestanden aus grober Baumwolle, die Sandalen aus Hanf. Um letztere zu schonen, zog ich sie stets erst nach dem Betreten der Kirche an.
Und dann hatte ich noch ein silbernes Kreuz. Eines Nachts hatte der Bruder mir, als er betrunken war, anvertraut, das Kreuz habe meiner Mutter gehört, die es wiederum von meinem Vater bekommen habe. Ansonsten hatte ich nichts, was mich an sie erinnerte. Das Kreuz war aus reinem Silber und an jeder Ecke mit roten Steinen besetzt.
Allerdings nützte es mir nicht viel. Hätte ich es in der Öffentlichkeit getragen, man hätte mich dafür entweder umgebracht oder mich wegen Diebstahls eingesperrt. Selbst im Armenhaus war es nicht sicher. Deshalb beschmierte ich es, um seinen Wert zu verbergen, mit Pech und hängte es mir an einem Hanfseil um den Hals.
Als ich das geschwärzte Kreuz betastete, dachte ich an Bruder Antonio. Hatte man ihn aus dem Amt gejagt, weil er sich gegen die Bestechlichkeit in der Kirche gewandt hatte? Weil er dagegen protestiert hatte, dass sie die Indios ausbeutete und die Mischlinge unterdrückte? Oder war er wirklich verstoßen worden, da er, wie einige andeuteten, eine Schwäche für Wein und gefallene Mädchen hatte?
Genau genommen waren diese Fragen für mich hinfällig. Bruder Antonio tat mehr Gutes als sonst jemand in Veracruz, und er hatte mir - obwohl er sich selbst damit in Gefahr brachte etwas geschenkt, das selbst die meisten reinblütigen Spanier nicht besaßen: die Welt der klassischen Literatur.
Auch die zeitgenössischen Schriftsteller hatte er nicht ausgespart. Bruder Juan, der Freund von Bruder Antonio, war ein Liebhaber dieser Autoren, von denen die meisten verboten waren. Er lieh Bruder Antonio die illegalen Schriften, die dieser in einem Geheimversteck verstaute, darunter auch die Werke von Miguel de Cervantes.
Ich wusste, dass Cervantes der Schöpfer von Don Quijote war, dem rastlosen Ritter von der traurigen Gestalt, der gegen Windmühlen kämpfte. Nach einigem Zögern hatte mir Bruder Antonio gestattet, das geborgte Buch zu lesen. Aber er befahl mir, die Finger von anderen verbotenen Schriftstellern wie Lope de Vega und Mateo Allmán zu lassen, obwohl er selbst sie studierte. Natürlich las ich sie trotzdem, wenn er nicht zu Hause war.
Eines Morgens schlief ich noch, als Bruder Juan uns aufgeregt einen Besuch abstattete und für Bruder Antonio ein Buch mit der Aufschrift Guzmán de Alfarache in das Versteck legte. Später fragte ich Bruder Antonio, warum dieses Buch versteckt werden müsse.
»Bücher wie Guzmán de Alfarache dürfen nur in Spanien gelesen werden«, erklärte er mir. »Die Inquisition hat die Einfuhr nach Neuspanien untersagt, weil die Kirche glaubt, die Indios könnten von einer solchen Lektüre verdorben werden. Nicht einmal uns, den reinblütigen criollos, ist es erlaubt, da diese Gefahr auch bei uns besteht.«
Dass kaum ein Indio lesen konnte, spielte dabei offenbar keine Rolle. Und da ich erst fünfzehn war, hatte das Wort ›verderben‹ für mich eine andere Bedeutung, als Bruder Antonio es gemeint hatte.
Am nächsten Tag, als ich allein war, befriedigte ich
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