Das Blut der Azteken
ich einen Riecher für Lebensgefahr entwickelt, und ich spürte, dass die alte Frau mir stärkere Gefühle entgegenbrachte als nur Böswilligkeit.
Angst.
Hatte ich - oder meine Eltern, die ich nicht kannte - ihr etwas angetan? Bruder Antonio hatte nie etwas dergleichen angedeutet, weshalb ich mir ihren Hass nicht erklären konnte. Und die Angst? Warum sollte eine adlige, mächtige Matrone, die Herrin eines großen Hauses, sich vor einem lépero fürchten, einem Jungen, der sich mit Betteln den Lebensunterhalt verdiente?
Es geschah nicht zum ersten Mal, dass ich mit jemandem verwechselt wurde. An dem Tag, als Don Francisco mich halb totgeschlagen hatte, behauptete sein Gast, meine wahre Herkunft zu kennen. Vielleicht hatte die alte Frau ja ebenfalls eine Ähnlichkeit entdeckt.
Immer wieder hatte ich Bruder Antonio gefragt, wer ich in Wirklichkeit war. Und einmal, als er viel Wein getrunken hatte, hatte er erwidert, mein Vater sei ein Sporenträger gewesen. Dann jedoch war er zornig geworden, möglicherweise weil er zu viel geredet hatte.
Aber die alte Frau hatte wie Don Franciscos Gast etwas in meinem Gesicht erkannt, das mich in Gefahr brachte. Nun befürchtete ich, sie habe etwas gesehen, das mich das Leben kosten könnte.
Ich versuchte, die Frau zu vergessen, doch ich musste ständig darüber nachgrübeln, wer meine Eltern gewesen sein mochten. Dass meine Mutter womöglich eine Diebin oder Hure war, kümmerte mich nicht, denn wir so genannten ›Kinder Gottes‹ stammten für gewöhnlich nicht aus besseren Kreisen. Und dass mein Vater ein Sporenträger gewesen sein könnte, war ebenfalls nicht weiter wichtig. Die feinen Herren verlustierten sich häufig mit unseren Frauen, scherten sich einen Dreck um ihre Bastarde und brachten ihnen anstelle von Liebe nichts als Verachtung entgegen. Dieser Hass schlug sich auch in den Gesetzen nieder, die sie gegen uns, ihre eigenen Nachkommen, verhängten. Wir Bastarde besaßen keinerlei gesellschaftlichen Rechte. Wir durften unsere Väter nicht beerben und wurden von ihnen nicht einmal als Kinder anerkannt, obwohl es ins ganz Neuspanien von uns nur so wimmelte. Hätte jemand einem Sporenträger nachgewiesen, dass ich sein leiblicher Sohn war, er hätte einfach durch mich hindurchgeblickt, als wäre ich nicht vorhanden denn im Sinne des Gesetzes gab es mich ja tatsächlich nicht.
Inzwischen war ich bereits zwei Menschen begegnet, die mich wegen meiner Herkunft verabscheuten, als ob ich irgendeinen Einfluss darauf gehabt hätte, wer meine Eltern waren. Ich kannte sie ja nicht einmal. Es war, als böte meine bloße Existenz Anlass zur Blutrache, so als hätte ich die Sünden meiner Vorfahren eigenhändig begangen.
Vielleicht konnte Bruder Antonio mir ja erklären, warum diese Frau mich hasste. Möglicherweise fand er einen Weg, das Problem aus der Welt zu schaffen. Ich wusste, dass er alles tun würde, was in seiner Macht stand. Bruder Antonio war ein guter Mensch, der allen half. Seine einzige Sünde bestand darin, dass er zu weichherzig für diese Welt war.
Nicht anders als ich musste auch er betteln gehen.
Einmal hatte ich ihn zu verschiedenen prächtigen Häusern begleitet und zugesehen, wie er Bücklinge machte, um geizigen Adligen eine Spende zu entlocken.
Seine medizinischen Kenntnisse hatte er, wie er häufig sagte, nicht einer akademischen Ausbildung, sondern den Erfahrungen des Alltags zu verdanken. Seine chirurgischen Instrumente bestanden aus Schreinerwerkzeugen und Küchenutensilien. Das Handwerk hatte er sich aus einem Buch von Galen von Pergamon angeeignet, ein griechischer Arzt, der im ersten Jahrhundert nach Christus gelebt hatte. Galens Werke, die erst vom Griechischen ins Arabische und anschließend ins Lateinische übersetzt worden waren, standen bei der Kirche nicht hoch im Kurs, da sie einen maurischen Einschlag hatten. Doch eine bessere Anleitung besaß Bruder Antonio nicht. Hin und wieder wurde - auf Bitten des Bruders - ein richtiger Arzt hinzugezogen. Ansonsten musste sich Bruder Antonio auf seine Lebenserfahrung verlassen, um die Patienten zu behandeln, die von den Ärzten übergangen worden waren.
Das Armenhaus war beileibe kein Palast und bestand nur aus derben, ungestrichenen Brettern und Bohlen. Ich schlief im Gemeinschaftsraum bei den anderen, die zu ausgemergelt oder zu krank waren, um anderswo Unterschlupf zu finden. Strohhaufen und ein paar zerlumpte Decken dienten uns als Nachtlager. Bruder Antonio besaß zwar ein paar gute Decken
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