Das Blut der Azteken
eine Zelle geworfen, und man gab ihm tagelang weder zu essen noch zu trinken. Dann begannen die Befragungen und Anschuldigungen. Anschließend wurde er gefoltert.
» Der junge Priester hatte Glück«, fuhr Bruder Antonio mit bewegter Miene fort. »Er kam mit ein paar Verletzungen und Verwarnungen und der Strafversetzung in eine Dorfkirche auf einer abgelegenen Hacienda davon. Aber er hat nie vergessen. Und nie vergeben.«
Als ich die Geschichte hörte, wurde mir klar, dass es sich bei dem jungen Priester um Bruder Antonio handelte. Jung und arglos wie ich damals war, erstaunte es mich, dass Bruder Antonio die Hand der Inquisition zu spüren bekommen hatte. Doch da ich jetzt selbst in diesem dunklen Kerker sitze, ein Mann, dessen Körper mit glühenden Zangen gemartert wurde, weiß ich, dass jeder Mensch, der seine Überzeugungen leidenschaftlich vertritt, zum Opfer werden kann.
15
Als wir in Jalapa eintrafen, stand die Sonne im Zenit. Unter freiem Himmel oder Dächern aus Segeltuch türmten sich auf einem riesigen Gelände Waren aus aller Welt. Unzählige Zauberer, Akrobaten und Scharlatane versuchten, den Leuten das Kleingeld aus den Taschen zu locken. Buchstände boten religiöse Werke und Dramen feil. Werkzeugmacher priesen die Vorzüge ihrer Hämmer und Sägen an. Kaufleute, die mit Saatgut und landwirtschaftlichen Geräten handelten, feilschten mit den Verwaltern von Haciendas. Schneider stellten elegante Gewänder aus kostbarer Seide und feiner Spitze zur Schau, wie sie angeblich die gekrönten Häupter von ganz Europa trugen. Verkäufer religiöser Kultgegenstände hatten überall Kreuze, Gemälde und Statuen aufgebaut.
Ich fühlte mich, als wäre ich unversehens in die Welt von Scheherazade und der arabischen Nächte geraten.
Selbstverständlich durfte auch die Inquisition nicht fehlen. Ihre familiares, die Laienpolizei, schritten mit einer Liste verbotener Bücher die Buden ab und überprüften die Echtheit von Devotionalien. Außerdem waren auch die schwarz gekleideten Steuereintreiber des Königs vor Ort, die im Auftrag der Krone die Höhe der Abgaben berechneten und sofort einkassierten. Mir entging nicht, wie viel Geld unter den Tischen den Besitzer wechselte und von den Taschen der Buchhändler und Kaufleute in die der familiares wanderte. Die allgegenwärtigen Bestechungsgelder, die ein nicht wegzudenkender Teil der neuspanischen Wirtschaft waren, wurden allgemein als Geschäftsausgaben einkalkuliert -und das zu Recht. Denn ein Steuereintreiber musste sein Amt beim König kaufen und erhielt seine Einkünfte anschließend nicht etwa in Form eines Gehalts, eines Lohns, eines Salärs oder einer Gebühr, sondern durch offiziell genehmigte Erpressung.
Dasselbe galt für die meisten öffentlichen Ämter. Der Gefängniswärter, der seinen Posten käuflich erworben hatte, vermietete die Sträflinge an die Zuckermühlen, Manufakturen und an die Bergwerke im Norden, wo sie der sichere Tod erwartete. Das Geld teilte er mit dem Polizisten, der die Verhaftung vorgenommen, und dem Richter, der den Angeklagten schuldig gesprochen hatte. Einen Staatsbediensteten dafür zu bezahlen, dass er seine Pflicht tat oder vernachlässigte -, war in Neuspanien gang und gäbe.
Ich war so begeistert, dass ich sogar die alte Frau und den finsteren Ramón vergaß. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund streifte ich über den Markt. Obwohl ich Menschenmengen und Festlichkeiten aus Veracruz kannte, konnten diese den Vergleich mit dem Reichtum und der Pracht dieses Marktes nicht aufnehmen. Selbst ich, der ich alles in Veracruz schon einmal gesehen zu haben glaubte, erstarrte vor Ehrfurcht.
Bruder Antonio riss mich aus meinem Staunen: »Ich denke nicht, dass dir hier Gefahr droht. In Veracruz ist man mit der Ankunft des neuen Erzbischofs beschäftigt, weshalb Don Ramón und die Witwe noch einige Zeit unabkömmlich sein dürften. Aber wir müssen dennoch vorsichtig sein…«
»Ich verstehe nicht…«
»Gut. Je weniger du weißt, desto sicherer bist du. Arglosigkeit ist deine einzige Verbündete.« Mit diesen Worten ließ er mich verdattert stehen.
Bruder Antonio ging zu einem Bücherstand und blätterte einige gerade eingetroffene Schriften von Platon und Vergil durch, während sich Bruder Juan den romantischen Abenteuern von traurigen Rittern und reizenden Damen auf der Suche nach Gott und dem Heiligen Gral zuwandte. Einige dieser Werke waren verboten, andere nicht, doch selbst die, welche die Zensoren gestatteten,
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