Das Blut von Magenza
er antworten konnte, öffnete sich mit einem Schlag und ohne Vorwarnung die Tür. Im Rahmen stand Reinhedis. Sie hielt eine Kerze in der Hand, die ihr Gesicht von unten anstrahlte. Ihre Haut war wächsern, ihre Wangen hohl und die Augen lagen in tiefen Höhlen. Sowohl Gerhard wie auch Griseldis erschraken bei ihrem Anblick, denn sie sah aus wie eine lebende Tote.
„Ist dir nicht gut, meine Liebe?“, fragte der Burgherr besorgt und machte einen Schritt auf sie zu.
Reinhedis wich zurück. „Doch, warum fragst du?“, antwortete sie mit kalter Stimme. „Ich hörte dich nur mit jemandem reden und wollte sehen, wer bei dir zu Besuch ist.“Dann wandte sie sich an Griseldis. „Ich sah dich gar nicht hereinkommen. Bist du schon lange hier?“
„Nein, ich brauchte dringend den Rat deines Mannes.“
Reinhedis schenkte ihr einen spöttischen Blick, der deutlich machte, dass sie ihr nicht glaubte. „Und das muss zu dieser späten Stunde sein?“
„Ich wollte ihn schon früher sprechen, aber er hatte nie Zeit“, verteidigte sich Griseldis, der die Burgherrin immer unheimlicher wurde. „Jetzt muss ich aber gehen“, meinte sie rasch und wandte sich nochmals an den Stadtgrafen: „Also kann ich mich darauf verlassen?“
„Unser Haus steht dir offen“, bestätigte er ihr.
Reinhedis hätte ihm gern widersprochen, tat es aber nicht. „Warum steht unser Haus ihr offen?“, wollte sie von ihm wissen, nachdem Griseldis gegangen war.
„Weil ich es sage!“, erwiderte er ungewohnt scharf.
Reinhedis musterte ihn ohne Gefühlsregung. In ihren Augen lag dabei eine Kälte, die Gerhard erschauern ließ. „Du bist der Herr und kannst tun, was dir beliebt“, stellte sie fest.
Gerhard versuchte, sie zu beschwichtigen. „Verzeih, ich habe mich im Ton vergriffen, aber der Tag war anstrengend und ich bin wegen der ganzen Anstrengungen müde.“
„Dann solltest du schlafen gehen und deine Zeit nicht mit Griseldis vergeuden“, meinte sie nur, drehte sich um und ging.
Gerhard schaute ihr nachdenklich hinterher. Sie hatte ihn nicht weiter ausgefragt. Früher hätte es sie interessiert, was er den Tag über zu tun gehabt hatte, jetzt ließ es sie kalt. In diesem Augenblick wurde ihm das ganze Ausmaß ihrer Teilnahmslosigkeit bewusst. Seit Wochen lebte sie vor sich hin, wobei ihr alles gleichgültig zu sein schien, allem voranihr Sohn. Sollte Reinhedis die einzige Person in der Stadt sein, die keine Ahnung von dem anrückenden Heer hatte?
Donnerstag, 22. Mai 1096, 27. Iyyar 4856
Palast des Erzbischofs
Der Erzbischof hatte den Kämmerer und Conrad direkt nach dem festlichen Gottesdienst einbestellt. Sie durften keine Zeit vergeuden und bevor Ruthard sich mit den Herrn des Domkapitels beriet, wollte er zunächst die Meinung seiner beiden engsten Vertrauten hören. Der Kämmerer war zwar der Herr über die Finanzen, aber daneben hatte er auch stets das leibliche Wohl seines Verwandten im Blick. Conrad schätzte er wegen seines analytischen Verstandes und seiner Fähigkeit, in angespannten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Außerdem besaß er das Talent, vorausschauend zu denken. Der Mönch erschien als Erster, wenig später folgte Embricho, wie immer außer Atem.
Ruthard hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, sondern kam direkt auf sein Anliegen zu sprechen. „Was wir schon seit geraumer Zeit befürchten, trifft nun ein. Gut, dass unsere Vorkehrungen weitgehend abgeschlossen und wir entsprechend vorbereitet sind. Haben wir auch an alles gedacht?“
Conrad redete zuerst. „Was getan werden konnte, wurde getan. Darüber hinaus ist es aber wichtig, dass innerhalb der Stadt Einigkeit herrscht. Seit die Bürger von der Erstürmung von Worms wissen, geht die Angst um und Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Die Menschen wissen nicht, was sie erwartet und wie sie sich verhalten sollen. Ich rate Euch, zu ihnen zu sprechen und ihnen die Lage zu erklären. Es ist wichtig, dass es keinen Unfrieden unter ihnen gibt. Uneinigkeit kann ein größerer Feind sein als Belagerer vor den Mauern. Manche weisen den Juden bereits die Schuld an der Lage zu, das muss unterbunden werden.“
„Das klingt vernünftig“, meinte Ruthard. „Ich werde zu ihnen reden, um sie auf einen gemeinsamen Weg einzuschwören.“
Conrad räusperte sich. Was er jetzt zu sagen hatte, würde Ruthard weniger gefallen. „Ihr könnt von den Bürgern nichts einfordern, wenn Ihr nicht selbst mit gutem Beispiel vorangeht.“
Ruthard zog verärgert
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