Das Blut von Magenza
seinem Pult, weil noch nichts angekommen war.
Sie legte den Brief wieder zurück und machte sich daran, einen ihr unbekannten Zugang zu suchen, denn irgendwie musste Griseldis hereingekommen sein. Ihre Augen tasteten die Wände ab, die aussahen wie gewöhnliches Mauerwerk. Sie blieben schließlich auf dem Wandteppich hängen und das erste Mal schenkte sie ihm wirklich Beachtung. Bislang hatte sie ihn nur als schmückendes Beiwerk betrachtet, nun erschien er ihr in neuem Licht. Mit der Kerze in der Hand schlug sie ihn beiseite, was gar nicht einfach war, denn er fiel immer wieder in die Ausgangsposition zurück. Schließlich zog sie einen Sessel herbei und klemmte ihn damit fest.
Mit der Kerze leuchtete sie das Mauerwerk Stück für Stück ab und tastete gleichzeitig mit ihrer freien Hand nachUnregelmäßigkeiten. Zunächst ließ sich nichts Auffälliges entdecken, doch als sie intensiver nachforschte, bemerkte sie, dass sich ein Teil der Steine vom Rest der Wand unterschied. Sie klopfte mit dem Fingerknöchel dagegen und vermutete aufgrund des Klangs einen Hohlraum dahinter. Trotz langen Suchens fand sie keinen Öffnungsmechanismus. Schließlich stellte sie die Kerze ab und drückte unter Aufbietung all ihrer Körperkraft gegen die Wand.
Dabei verspürte sie ein leichtes Ziehen im Unterleib, das sie aber kaum beachtete. Diese Entdeckung war einfach zu aufregend. Schließlich gab der Teil der Mauer nach und ein Spalt, der breit genug für sie war, öffnete sich. Ein kühler Lufthauch wehte ihr entgegen, der die Kerze am Boden zum Flackern brachte. Sie bückte sich rasch, um die Flamme mit der Hand zu schützen und wagte sich dann hinein. Hätte ihre Eifersucht sie nicht getrieben, wäre sie umgekehrt, denn der Gang war nicht sonderlich einladend. Lange Staubfäden hingen von der Decke, auf dem Boden hatten sich brackige Pfützen gebildet und an manchen Stellen bröckelte das Mauerwerk. Nagerkot verriet die Anwesenheit ganzer Heerscharen von Ratten. Da Reinhedis sich vor ihnen genauso ekelte wie vor Krabbeltieren aller Art, musste sie all ihren Mut aufbieten um weiterzugehen. Das alte Gemäuer verriet ihr, dass der Gang schon seit Generationen existierte, allem Anschein nach aber erst in letzter Zeit wieder genutzt wurde. Dafür sprachen die frischen Fackeln in den Wandhalterungen und der ansonsten eher klägliche Zustand.
Trotz ihres Unbehagens wollte Reinhedis bis zu seinem Ende gehen. Doch je weiter sie vordrang, umso heftiger wurde der Windzug. Da sie fürchtete, ihre Kerze könne ausgehen, kehrte sie schließlich um. Irgendwo mündetedieser Gang ins Freie und sie beschloss, seinen Eingang von außen zu suchen. Durchgefroren gelangte sie wieder in das Zimmer und verschloss unter erneutem Kraftaufwand die geheime Tür.
Wieder spürte sie ein Ziehen, doch dieses Mal im Rücken und erst jetzt dachte sie an ihr Ungeborenes. Erschöpft setzte sie sich und wurde augenblicklich von ihren Gefühlen überwältigt. Der Gedanke an das Kind, die Entdeckung des geheimen Ganges und die Tatsache, dass Griseldis gestern Nacht hier gewesen war, machten sie erneut rasend vor Zorn. Warum tat Gerhard ihr das an? Sie war sich dieses Mal so sicher, dass sie ihm endlich den lang ersehnten Erben gebären würde. Denn bei der Zeugung hatten sie beide eine solche Leidenschaft empfunden wie selten zuvor und waren gemeinsam zum Höhepunkt gelangt, was als sicheres Omen für einen Jungen galt. Aber gerade das machte seinen vermeintlichen Verrat nur noch schlimmer.
Ganz allmählich beruhigte sie sich wieder. Bald würde Gerhard zurückkommen. Er durfte nicht wissen, dass sie hinter sein Geheimnis gekommen war. Sie versetzte den Raum wieder in seinen ursprünglichen Zustand und verließ dann die Burg, um ihre Erkundung von außen fortzusetzten. An deren Rückseite fand sie schließlich die kleine Pforte, die sie bisher immer übersehen hatte. Am Schloss bemerkte sie frische Kratzer, zudem schienen die Angeln frisch geschmiert.
Nun gab es keinen Zweifel mehr. Dies war der Weg, den Griseldis nahm, wenn sie ihren Gatten besuchte. Auf einmal verstärkte sich der Schmerz in ihrem Unterleib und wollte gar nicht mehr aufhören. Ihr wurde schwindlig. Hechelnd tastete sie sich an der Mauer entlang bis zumHaupteingang. Mit Hilfe einer Magd schaffte sie es gerade noch ins Ehegemach, wo sie auf dem Bett ohnmächtig zusammenbrach.
Dienstag, 1. Januar 1096, 4. Schewat 4856
Battenheim
Heute war Hannos letzter Tag im Haus des Grafen, morgen würde
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