Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
Lydia MacBride führt ein Tagebuch«, sagte ich.
Sie faltete das Blatt auseinander, las es, sah mich an und lächelte. Dann las sie es noch einmal. Der Eifer in ihrem Blick war so unverhüllt, dass ich mich beinahe für sie schämte.
» Oh, mein cleverer, großartiger Schatz!«, rief sie und schlug die Bettdecke zurück, als habe sie endlich etwas von innen heraus gewärmt. Ich verspürte eine entsprechende innere Wärme, als fließe langsam eine heiße Flüssigkeit in mich hinein und vertreibe das eiskalte Schuldgefühl angesichts meiner eigenen Unfähigkeit. Ich wusste, ich musste alles tun, was nötig war, um dieses Gefühl zu erhalten.
» Dies wird die Seite eins in unserem Dossier. Für sich genommen genügt es natürlich noch nicht als Beweis, aber ich bin sicher, in den anderen wirst du noch konkretere Hinweise finden.«
» In den anderen?«
» In den anderen Tagebüchern, Darcy. Leute, die Tagebuch schreiben, tun es nicht nur einmal. Sie tun es dauernd, ihr Leben lang. Du hast doch nachgesehen, ob es noch mehr gibt, oder?«
Hatte ich nicht. Aber es gab noch mehr. Als ich zwei Wochen später wieder hinging, waren die Tagebücher sogar das Erste, was ich sah. Sie hatten sich vor meinen Augen versteckt, aufgereiht hinter der Schnörkelverzierung am oberen Rand des Kirschholzregals, sodass sie aussahen wie ein Teil der Einrichtung. Ich stieg auf den Schreibtisch, um besser sehen zu können. Es war ein rundes Dutzend identische Bände; der, in dem ich gelesen hatte, war von den anderen nicht zu unterscheiden. Ich zog den letzten heraus und sah, dass sie alle mit Zahlenschlössern verschlossen waren, wie ich es befürchtet hatte. Ich versuchte es mit den Geburtsdaten der Kinder– ihre Geburtsurkunden herauszusuchen bedeutete an sich schon einen halben Tag Arbeit–, mit dem Hochzeitstag der MacBrides– der auf dem Jahresplaner an der Wand mit einem kitschigen Liebesherz eingerahmt war– und mit naheliegenden Kombinationen wie 1234, aber nichts klappte.
Lydias Nähkästchen erwies seine vielseitige Verwendbarkeit ein zweites Mal. Eine feine, gebogene Nadel, vielleicht Teil einer Nähmaschine, ließ sich unter die Zahlenrädchen schieben. Anfangs wackelte ich nur sinnlos damit herum, aber bald geriet ich in eine Art Trance und erstarrte zu absoluter Bewegungslosigkeit– mit Ausnahme meiner Finger, die bald rot, dick und wund waren. Der Gedanke an das Gesicht, das meine Mutter machen würde, wenn ich erfolgreich wäre, verlieh mir Ausdauer. Nach einer Stunde war ich nass geschwitzt von der angestrengten Konzentration. Als der letzte Riegel aufsprang, keuchte ich. Die Enttäuschung war niederschmetternd. Das Tagebuch auf meinem Schoß war von 1987– Jahre, bevor unsere Lebenswege sich gekreuzt hatten. Es war bedeutungslos für mich. Wenn sie nicht über die Schönheit der von ihr geschaffenen Kinder staunte oder sich über ihren großen Stolz auf die Ernennung zur Richterin verbreitete, schrieb sie verblüffend umfangreich über Gerichte, die sie gekocht, und Gerichte, die sie gegessen hatte. Gelegentlich klebte ein aus einer Zeitschrift gerissenes Rezept auf der Seite.
Kein schwieriger oder trockener Schulbuchtext hatte mich auf die Ödnis der Tagebücher Lydia MacBrides vorbereitet. Sie lockte mich mit irreführenden Einleitungen und falschen Spuren. Das Wort » Beichte« sprang mir von einer Seite entgegen wie ein Fisch an der Angel, nur um dann zu der langweiligen Bekundung eines belanglosen Fehlverhaltens zu verkümmern.
Cathedral Terrace
23. September 1999
Ich komme eben von einem Begräbnisgottesdienst zurück, der bei mir das Bedürfnis weckte, zur Beichte zu gehen. Diana Font. Nur fünfzig Jahre alt. Brustkrebs. Sie ist die erste meiner Altersgenossinnen, die gestorben ist, und früher einmal hätte ich sie als meine beste Freundin bezeichnet. Schock und Trauer waren meine ersten Reaktionen, aber dicht auf ihren Fersen folgte Schuldbewusstsein. Diana war das einzige andere Mädchen aus meiner Schule, das nach Cambridge ging, und nach dem Examen war sie die Erste, die eine eigene Wohnung bekam, in der Whiteladys Road in Bristol. Wir Übrigen, die wir in unseren Buden hausten, waren alle schrecklich beeindruckt, wenn auch nicht so beeindruckt, wie sie es selbst von sich war. Sie sah sich als Paarvermittlerin und lud häufig zu Abendessen ein, bei denen sie mich unweigerlich neben irgendeinen Langweiler platzierte und selbst neben einem intelligenten jungen Mann saß, den sie umgarnen wollte. Zu
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