Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
Operation, und er sagt mir, er will nicht. Das neue Auge wird niemanden täuschen, sagt er; die Narbe wird bleiben. Was soll’s also? Zwei Jahre lang sind wir zu den besten Ärzten in England gepilgert, die Verletzung ist endlich so gut verheilt, dass das Auge eingepasst werden kann, wir haben ein Heidengeld für Beratungskosten ausgegeben, für Untersuchungen, für all die Fahrten nach London, immer wieder durch den Kreisverkehr an der Old Street mit dem London A– Z auf dem Schoß. Alles für ein maßgefertigtes Fiberglas-Auge, das ein Vermögen gekostet hat – für manche wäre es das Schulgeld für ein ganzes Jahr –, und jetzt will er nicht.
Als er es mir mitteilte, habe ich nichts gesagt, aber als er zur Schule gegangen war, habe ich mich im Bad eingeschlossen und ins Handtuch geweint. Meinen Zorn zeige ich nur hier auf diesen Seiten. Was Felix und den Rest der Familie angeht, so hat er meine Unterstützung. Aber in Wirklichkeit möchte ich ihn schütteln und ihn fragen, ob er weiß, was mich das alles gekostet hat – an Geduld, an Zeit und, jawohl, auch an Geld. Ich weiß, wir können es uns leisten – in Zeiten wie diesen, wenn große Summen schnell aufgetrieben werden müssen, habe ich keine Gewissensbisse mehr bei dem Gedanken daran, wie seine Schulbildung finanziert wurde.
Meine Haut prickelte wie von einer Million winzigen Nadelstichen. Bedeutete das etwa, meine Mutter hatte recht ?
Nein, mehr als das Geld ist es die Zurückweisung meiner Hilfe, meiner selbst . Er lässt mich nicht mehr an sich heran; er ist so verschlossen, mürrisch, sarkastisch, wie er früher frech und verspielt war. Auch Tara hat sich zurückgezogen und verbringt die ganze Zeit in ihrem Zimmer oder bei ihren Freunden. Sophie ist ebenfalls angespannt, und das, so fürchte ich, ist meine Schuld. Rowan und ich haben beschlossen, die kleineren Kinder abzuschirmen, aber ihr habe ich alles erzählt. Sie ist reif für ihr Alter, aber als meine Vertraute hätte ich sie nicht benutzen dürfen.
Ich begriff nicht, was so unangemessen daran sein sollte, Sophie ins Vertrauen zu ziehen. Es kam mir ziemlich merkwürdig vor, dieses Bild einer Mutter-Kind-Beziehung als Einbahnstraße, aber ich fand keine weitere Erklärung oder Konkretisierung dafür. Das ganze Tagebuch war verwirrend unbestimmt. Es gab keine weiteren Anspielungen darauf, wie Felix auf die Cath gekommen war. Es las sich nicht wie die Tagebücher, die ich kannte– Frank und Pepys und Byron–, die geschrieben worden waren, um gelesen zu werden. In diesen Zeilen spiegelten sich die weitläufigen Innenräume eines scharfen, aber undisziplinierten Verstands. Es waren Seiten voller unstrukturierter Gefühlsregungen ohne jeden Kontext, die den Leser planvoll ausschlossen.
Ich kehrte zu der ersten Seite zurück, die ich gelesen hatte und die nach wie vor am meisten aussagte. Meine Mutter würde wissen, was davon zu halten wäre, aber wie sollte ich es zu ihr bringen? Mein erster Impuls war es, die Seite herauszureißen oder so dicht an der Bindung herauszuschneiden, dass ihr Verschwinden nicht gleich auffallen würde, aber dann würde Lydia wissen, dass jemand ihre Worte gelesen hatte. Und so amüsant es auch war, sich vorzustellen, wie sie ihre Kinder der Schnüffelei bezichtigte, es konnte doch allzu früh zu meiner eigenen Entdeckung führen. Das Risiko war zu groß.
Damals hatten wenige Leute anständige Drucker oder Kopierer zu Hause. Ich ging mit dem Buch in die Stadtbücherei. Das Gefühl von Recht und Berechtigung, das ich im Haus verspürt hatte, verflog auf der Straße, und ich war so nervös und schuldbewusst, als hätte ich ein Baby entführt.
Der Kopierer in der Bibliothek war ein klobiger Raumfahrt-Apparat, der Dokumente scannen konnte und mit einem Computer verbunden war. Ich fragte den Bibliothekar mit den Dreadlocks, ob das Gerät die kopierten Seiten irgendwo speicherte, und war erleichtert, als er den Kopf schüttelte. Glatt und warm glitt eine Doppelseite der kopierten Handschrift in den Sammelschacht.
In Lydias Arbeitszimmer legte ich das Tagebuch genau so zurück, wie ich es vorgefunden hatte, in einem präzisen Winkel zu dem Stift daneben. Meine Mutter lag im Bett, als ich nach Hause kam. Trotz der Hitze war sie zugedeckt, und ihr Gesichtsausdruck war einer, den ich inzwischen kannte und fürchtete– teils herausfordernd, teils schon im Voraus enttäuscht. Ich hatte das Blatt in der Mitte gefaltet und überreichte es ihr wie eine Geburtstagskarte.
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