Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
was ich gesehen habe, als sie mir diesen Überfall in die Schuhe schieben wollte. Sie wollte mich fertigmachen.«
Kenneth schnaubte.
» Du vergisst, dass ich diese Familie kenne , Kenneth. Ich war in ihrem Haus, ich habe gelesen… ich weiß, was sie denken .«
Jetzt seufzte er. » Ich wünschte, du könntest es als Gelegenheit betrachten, Darcy, als Chance, etwas aus dir zu machen. Du hast praktisch für deine Mutter gesorgt, seit du laufen konntest. Ist dir das nicht klar? Alles, was du getan hast, hast du für sie getan. Ich sage nur, jetzt hast du die Chance, diesen ganzen Mist endlich sein zu lassen, und…«
» Sieh es mir nach, wenn ich den Tod meiner Mutter nicht als Gelegenheit für mein persönliches Fortkommen betrachte«, zischte ich. Kenneth goss sich wieder einen Fingerbreit Whisky ein. Mit seinen rosa geränderten Augen sah er mehr denn je aus wie das weiße Kaninchen.
» Du drehst mir schon wieder die Worte im Mund herum. Ich will dich nur ermutigen zu sehen, dass es im Leben mehr gibt als Saxby und diese blöde Schule. Du bist alt genug, um… na ja, du bist jedenfalls nicht viel jünger, als deine Mutter war, als sie…«
» Davon werden wir jetzt nicht anfangen.«
Kenneth trommelte mit den Fingern an die Flasche, nagte an der Unterlippe und zog sich in ein Schweigen zurück, das ich nicht deuten konnte. Nach einer Weile schaltete er den Fernseher ein, um die Rennergebnisse zu sehen. Bei dem beruhigenden Geleiere von Namen und Zahlen schnarchte er bald darauf in seinem Sessel.
Ich ließ mich auf die fabrikneu gestärkte Bettdecke sinken. Mir schwirrte der Kopf. Auf seine ungeschickte Weise hatte Kenneth die Entscheidung für mich getroffen. Er war im Irrtum gewesen, als er mutmaßte, der Tod meiner Mutter habe mir die Freiheit geschenkt, ich selbst zu werden. Ich wusste, ich würde nie wieder wirklich ich selbst sein, denn ein unentbehrlicher Teil von mir war für immer verloren. Wenn nichts mehr sein konnte wie früher, musste sich alles ändern. Hier konnte ich nicht bleiben. Meine Ambitionen, die sich so lange auf diese Stadt konzentriert hatten, würden sich vorläufig nach außen richten müssen.
Sosehr Kenneth sich mit dem Gästezimmer bemüht hatte, er hatte doch vergessen, einen Vorhang anzubringen, und am nächsten Morgen um sechs dämmerte der Tag herauf. Ich nahm kein einziges Buch mit. Das war der erste Schimmer jenes Mantras, das mich in den kommenden Monaten leiten würde, des Gedankens, mein Überleben hänge davon ab, ein anderer Mensch zu werden– nicht nur losgelöst von Saxby, sondern von allem, was sie für mich gewollt hatte. Ich schloss meine Hand um die kleinste Matroschka, steckte meine zusammengefaltete Geburtsurkunde in die Tasche und schob den nicht eingelösten Gewinnzettel in eine Einkaufstüte mit jungfräulichen Rubbellosen, die ich mitnahm, als ich Kenneth’ klamme kleine Wohnung verließ. Ich schloss mich dem ersten spärlichen Rinnsal der Pendler an, die zum Bahnhof unterwegs waren.
Je weiter Saxby hinter mir zurückblieb, desto stärker fühlte ich mich. Ich nahm mir vor, alles zu verändern, von meinem Namen bis zu meinem Äußeren. Ich flüchtete nicht vor meiner Verantwortung gegen das Andenken meiner Mutter, ich ehrte es nur auf andere Weise. Ich gelobte zurückzukehren, wenn ich den MacBrides gewachsen wäre– oder mehr als das. Wenn das die Arbeit meines Lebens sein würde, dann sollte es eben so sein. Ich hatte die Geduld eines Heiligen– oder des Gegenteils.
VIERUNDZWANZIG
Kenneth’ Wettschein brachte fünftausend Pfund in bar. In der sterilen Umgebung des Paddingtoner Travelodge teilte ich das Geld in Hunderterstapel auf. Mit der Kante einer Münze arbeitete ich mich durch Rubbellose im Wert von vierhundert Pfund. Der Ertrag von insgesamt hundertsiebenundzwanzig Pfund weckte Zweifel an Kenneth’ Algorithmus, aber ich konnte damit die ersten paar Übernachtungen bezahlen.
Und jetzt? Im Hotel konnte ich nicht bleiben. Ich vibrierte von einem Tatendrang, wie ich ihn noch nie gekannt hatte. In den Romanen des 19. Jahrhunderts, die wir immer gelesen hatten, wurden die Figuren von einem Verlust oft überwältigt und blieben monatelang im Bett liegen. Ich empfand den Schmerz wie einen Dynamo; nie war ich so beschäftigt wie in der Zeit meiner Trauer. Die Konstruktion eines neuen Lebens ist ein Fulltime-Job und lässt einem barmherzig wenig Zeit, um mit dem Verlust zu hadern. Ich hatte Geld zum Leben, aber ich brauchte eine Arbeit. Ich lechzte
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