Das Böse unter der Sonne
hatte es sicherlich nicht eilig. Also, wenn sie dort gegen Viertel vor elf ankam, passt alles zusammen.»
«Was für eine Todeszeit hat der Arzt genannt?»
«Ah, Neasdon legt sich da nicht fest. Er ist ein vorsichtiger Bursche. Viertel vor elf, meint er, ist das früheste.»
Poirot nickte. «Ich möchte noch einen anderen Punkt erwähnen. Bevor sie lospaddelte, bat mich Mrs Marshall, niemand zu verraten, dass ich sie gesehen hätte.»
Weston starrte ihn nachdenklich an. «Hm, das scheint mir sehr bezeichnend zu sein.»
«Ja», murmelte Poirot, «das finde ich auch.»
Weston zupfte an seinen Schnurrbartenden. «Hören Sie, Poirot», sagte er dann. «Sie sind doch ein Mann von Welt. Was für eine Frau war Mrs Marshall Ihrer Meinung nach?» Ein flüchtiges Lächeln huschte über Poirots Gesicht. «Haben Sie den Klatsch noch nicht gehört?», fragte er.
«Ich weiß, was die Frauen über sie reden», erwiderte der Polizeichef trocken. «Das ist immer so. Aber wie viel Wahrheit steckt dahinter? Hatte sie tatsächlich mit diesem Burschen Redfern ein Verhältnis?»
«Zweifellos.»
«Er folgte ihr hinunter zum Strand?»
«Es besteht Anlass, das zu glauben.»
«Und der Ehemann? Wusste Bescheid? Wie stellt er sich dazu?»
«Es ist nicht leicht zu beurteilen», sagte Poirot zögernd, «was Captain Marshall denkt oder fühlt. Er gehört zu den Männern, die ihre Gefühle nicht zeigen.»
«Trotzdem kann er welche haben», entgegnete Weston scharf.
Poirot nickte wieder. «O ja, natürlich. Sicherlich ist er nicht aus Stein.»
Bei seinem Gespräch mit Mrs Castle benahm sich der Polizeichef so taktvoll, wie es ihm möglich war.
Mrs Castle war die Besitzerin des «Jolly Roger», eine Frau um die Vierzig mit üppigem Busen, rostrotem Haar, das sie mit Henna färbte, und einer gedehnten Sprechweise, die beinahe beleidigend wirkte.
«Dass so etwas in meinem Hotel passieren musste!», rief sie. «Es war immer das ruhigste Fleckchen, das man sich vorstellen konnte! Die Leute, die herkommen, sind alle so reizend! Nie gab es Schwierigkeiten, wenn Sie wissen, was ich meine! Nicht wie in den großen Hotels von St. Loo.»
«Ganz recht, Mrs Castle», sagte Oberst Weston. «Aber so etwas kommt in den besten Familien – hm – kann überall passieren.»
«Ich bin sicher, dass Inspektor Colgate für mich bürgt», sagte Mrs Castle und sandte dem Inspektor einen Hilfe suchenden Blick. Der Inspektor saß aufrecht da und wirkte sehr amtlich.
«Was die Ausschankzeiten betrifft, so bin ich da immer sehr genau gewesen. Keine Unregelmäßigkeiten!»
«Schon gut», sagte Weston. «Wir machen Ihnen doch keine Vorwürfe, Mrs Castle. Wir haben nichts zu beanstanden. In keiner Beziehung.»
«Aber es wirft doch einen Schatten auf das Hotel», rief Mrs Castle, und ihr üppiger Busen hob und senkte sich vor Aufregung. «Wenn ich nur an die lärmenden neugierigen Menschenmassen denke. Natürlich haben nur die Hotelgäste Zutritt zur Insel – trotzdem werden Neugierige kommen und vom Festland aus auf uns zeigen!» Sie erschauerte.
Inspektor Colgate sah eine Chance, dem Gespräch eine günstigere Wendung zu geben. «Da wir gerade davon sprechen», sagte er. «Ich meine, dass nur die Hotelgäste sich auf der Insel aufhalten dürfen. Wie schaffen Sie es, die andern fern zu halten?»
«Da bin ich sehr streng!»
«Ja, schon, aber wie machen Sie das? Was hält die Leute ab, die Insel zu betreten? Im Sommer überfallen die Touristen die Gegend wie die Heuschrecken!»
Mrs Castle zuckte leicht die Achseln. «Daran sind die Ausflugsbusse schuld. Ich habe einmal achtzehn Stück gezählt, die am Kai von Leathercombe standen. Achtzehn Busse!»
«Gut, gut. Aber wie hindern Sie die Leute daran, auf die Insel zu kommen?»
«Es gibt Warntafeln. Und natürlich sind wir zur Flutzeit vom Festland abgeschnitten.»
«Und bei Ebbe?»
Mrs Castle erklärte den Sachverhalt. Zwischen Insel und Dammende befand sich ein Tor. Daran war eine Tafel befestigt: «Zugang nur zum Hotel. Privatgrundstück.» Die Felsen zu beiden Seiten des Tores waren sehr steil. Man konnte sie nicht hinaufklettern.
«Aber jeder kann sich ein Boot nehmen, um die Insel rudern und irgendwo an Land gehen», stellte Colgate fest. «Niemand kann sie daran hindern. Das Küstenvorland ist öffentlich. Sie, Mrs Castle, haben keine rechtliche Handhabe, es den Touristen zu verwehren, sich auf den Teil des Strandes zu legen, der bei Ebbe nicht unter Wasser ist.»
Aber das geschah offenbar
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