Das Böse unter der Sonne
Ich habe es gehört, sobald ich ankam. Entsetzlich… schrecklich…» Sein hagerer Körper schien zu erzittern. «Die ganze Zeit, seit ich hier bin», sagte er mit leiser Stimme, «war ich mir bewusst, sehr bewusst, dass die Mächte des Bösen auf uns lauerten.» Sein brennender Blick wanderte zu Hercule Poirot. «Erinnern Sie sich, Monsieur Poirot? An unser Gespräch vor ein paar Tagen? Über die Realität des Bösen?»
Weston betrachtete die große, hagere Gestalt mit einer gewissen Verblüfftheit. Offensichtlich fiel es ihm schwer, sich ein Bild von Lane zu machen. Lanes Blick kehrte zu Weston zurück. «Sicherlich klingt das in Ihren Ohren sehr phantastisch, Sir», sagte Lane mit einem leichten Lächeln. «Heute glaubt man nicht mehr an das Böse. Das Feuer der Hölle ist erloschen. Wir glauben nicht mehr an den Teufel. Aber Satan und seine Sendboten waren noch nie so mächtig wie jetzt.»
«Hm, ja, vielleicht», sagte Weston. «Das, Mr Lane, fällt jedoch in Ihr Fach. Meine Aufgabe ist prosaischer – ich muss nur einen Mordfall klären.»
«Was für ein schreckliches Wort: Mord!», rief Stephen Lane. «Eine der ersten Sünden auf dieser Welt – das Blut des unschuldigen Bruders wurde vergossen…» Er schwieg, die Augen halb geschlossen. Dann fragte er in weniger pathetischem Ton: «Wie kann ich Ihnen helfen?»
«Vor allem möchten wir Sie bitten, Mr Lane, uns zu erzählen, wo Sie sich heute aufgehalten haben.»
«Aber gern. Ich brach schon sehr früh zu einer meiner üblichen Wanderungen auf. Ich wandere gern, wissen Sie. Ich kenne bald die ganze Gegend hier. Heute war ich in St. Petrock-in-the-Combe. Es ist etwa sieben Meilen entfernt – eine sehr hübsche Wanderung über gewundene Pfade, durch Täler und über Hügel. Ich nahm etwas zum Mittagessen mit und aß unterwegs in einem Gehölz. Ich sah mir die Kirche an. Dort gibt es Reste früher Glasmalerei, leider nur spärliche Reste, und eine sehr interessante bemalte Tür.»
«Vielen Dank, Mr Lane. Sind Sie unterwegs zufällig jemand begegnet?»
«Eigentlich nicht. Ein Pferdefuhrwerk kam vorbei, dann traf ich noch auf ein paar Jungen mit Fahrrädern und ein paar Kühe. Allerdings», fügte er lächelnd hinzu, «wenn Sie einen Beweis für meine Behauptung brauchen – ich schrieb meinen Namen in das Gästebuch, das in der Kirche aufliegt.»
«Sie sprachen mit niemandem, der zur Kirche gehört, wie dem Pfarrer oder dem Messdiener?»
Stephen Lane schüttelte den Kopf. «Nein, es war niemand zu sehen, und ich war nur als Besucher gekommen. St. Petrock ist sehr abgelegen. Das dazugehörige Dorf ist noch eine halbe Meile weiter.»
«Sie dürfen nicht glauben», sagte Oberst Weston freundlich, «dass wir Ihre Aussage anzweifeln. Wir überprüfen routinemäßig jeden Hotelgast. In einem Fall wie diesem müssen wir uns vor allem an die Routine halten.»
«O ja, ich verstehe», sagte Stephen Lane.
«Jetzt zu meiner nächsten Frage. Wissen Sie irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte? Irgendetwas über die Tote? Irgendeinen Hinweis, der uns bei der Suche nach dem Mörder nützen würde? Haben Sie etwas gehört oder gesehen?»
«Ich habe nichts gehört», antwortete Stephen Lane. «Aber soviel kann ich Ihnen sagen: Als ich Arlena Marshall sah, wusste ich ganz instinktiv, dass sich in ihr das Böse konzentrierte. Ja, sie war das Böse selbst! Das personifizierte Böse! Eine Frau kann Stütze und Inspiration im Leben eines Mannes sein – sie kann ihn aber auch ins Verderben reißen. Sie kann den Mann zum Tier machen. Die Tote war genauso eine Frau. Sie appellierte an alle niederen Instinkte in der Natur des Mannes. Sie war eine Frau wie Jezabel. Jetzt ist sie in ihrer ganzen Sündhaftigkeit zerschmettert worden.»
Hercule Poirot machte eine abwehrende Handbewegung. «Sie wurde nicht zerschmettert – sie wurde erwürgt! Erwürgt, Mr Lane, von einem Paar menschlicher Hände!»
Die Hände des Geistlichen begannen zu zittern. Die Finger öffneten und schlossen sich. Mit leiser, erstickter Stimme sagte er: «Das ist entsetzlich – entsetzlich. Müssen Sie das so brutal sagen?»
«Es ist einfach die Wahrheit», erwiderte Poirot. «Haben Sie irgendeine Vorstellung, Mr Lane, wessen Hände es gewesen sein könnten?»
Der andere schüttelte den Kopf. «Ich weiß nichts – nichts…» Weston stand auf. Nach einem raschen Blick zu Colgate, den dieser mit einem fast unmerklichen Nicken beantwortete, sagte er: «Tja, dann brechen wir jetzt auf. Wir wollen zur
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