Das Bourne-Vermächtnis
Dabei beobachtete er die von der Straße in die Tankstelle abbiegenden Autos. Eine Frau stieg aus ihrem Wagen und fragte Robbinet, was er von ihrem rechten Vorderreifen halte. Sie fürchtete, er verliere Luft. Dann hielt ein Auto mit zwei jungen Leuten neben den Zapfsäulen. Beide stiegen aus. Während der Beifahrer sich gähnend reckte, verschwand der Fahrer in dem Tankstellenshop. Der Blick des Zurückgebliebenen streifte Robbinets Peugeot, dann heftete er sich anerkennend auf die Frau, die um ihren Wagen herum zurückging.
»Irgendwas im Funk?«, fragte Jacques, als er sich wieder ans Steuer setzte.
»Überhaupt nichts.«
»Na, das ist doch eine gute Nachricht«, sagte Robbinet, als sie davonfuhren.
Sie fuhren kreuz und quer durch ein Labyrinth aus hässlichen Straßen, und Bourne sah dabei in den Außenspiegel, um sich zu vergewissern, dass der Wagen mit den beiden jungen Männern ihnen nicht folgte. »Goussainville hat eine uralte königliche Vergangenheit«, erzählte Jacques. »Zu Anfang des sechsten Jahrhunderts hat es Clotaire, der Gemahlin des französischen Königs Clovis, gehört. Während die Franken noch als Barbaren galten, hat er sich taufen lassen, wodurch wir für die Römer akzeptabel wurden. Der Kaiser hat ihn zum Konsul ernannt. Damit wurden aus Barbaren plötzlich wahre Verteidiger des Glaubens.«
»Ich hätte nicht vermutet, dass dieses Nest eine mittelalterliche Stadt war.«
Der Minister hielt vor einigen tristen grauen Apartmentgebäuden. »In Frankreich«, sagte er, »verbirgt Geschichte sich oft an ganz unerwarteten Orten.«
Bourne sah sich um. »Hier wohnt deine gegenwärtige Geliebte, stimmt’s?«, fragte er. »Als du mich mit ihrer Vorgängerin bekannt gemacht hast, musste ich so tun, als sei sie meine Freundin, weil deine Frau in das Bistro gekommen ist, in dem wir vor unseren Drinks saßen.«
»Soviel ich mich erinnere, hast du dich an diesem Nachmittag recht gut amüsiert.« Robbinet schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte wetten, dass Delphine, die ständig von Dior, Yves Saint-Laurent und anderen Luxusmarken redet, sich lieber die Pulsadern aufschneiden als in Goussainville leben würde.«
»Was tun wir dann hier?«
Der Minister saß einige Zeit nur da und starrte in den Regen hinaus. »Scheußliches Wetter«, sagte er zuletzt.
»Jacques …?«
Robbinet sah zu ihm hinüber. »Oh, entschuldige, mon ami . Ich war in Gedanken woanders. Alors , ich möchte, dass du Mylene Dutronc kennen lernst.« Er legte den Kopf schief. »Hast du ihren Namen schon mal gehört?«
Als Bourne den Kopf schüttelte, fuhr Robbinet fort:
»Das habe ich mir gedacht. Nun, da er jetzt tot ist, darf man wohl darüber sprechen. Mademoiselle Dutronc war Alex Conklins Geliebte.«
»Lass mich raten«, sagte Bourne sofort. »Helle Augen, langes lockiges Haar, leicht ironisches Lächeln?«
»Er hat dir also von ihr erzählt?«
»Nein, ich habe ein gerahmtes Foto gesehen. Es war so ziemlich der einzige private Gegenstand in seinem Schlafzimmer.« Er zögerte einen Augenblick. »Weiß sie Bescheid?«
»Als sein Tod gemeldet wurde, habe ich sie sofort angerufen.«
Bourne fragte sich, weshalb Robbinet ihr die Nachricht nicht selbst überbracht hatte. Das hätte der Anstand erfordert.
»Genug geredet.« Aus dem Fußraum hinter dem Fahrersitz holte Robbinet eine Reisetasche hervor. »Wir besuchen jetzt Mylene.«
Sie stiegen aus dem Peugeot, gingen im Regen zwischen Blumenrabatten zur Haustür und stiegen zwei, drei Betonstufen hinauf. Robbinet klingelte bei 4A, und einen Augenblick später summte der elektrische Türöffner.
Das Apartmentgebäude war innen ebenso schlicht und hässlich wie außen. Sie stiegen die Treppe in den vierten Stock hinauf und gingen einen Flur mit identischen Wohnungstüren auf beiden Seiten entlang. Beim Geräusch ihrer Schritte wurde die Tür von 4A geöffnet.
Unmittelbar dahinter stand Mylene Dutronc.
Sie war ungefähr zehn Jahre älter als auf dem Foto –
sie muss inzwischen fünfzig sein, überlegte Bourne sich, obwohl man ihr das nicht ansieht –, aber ihre Augen waren hell und klar wie auf dem Foto, und ihr Lächeln wirkte reizvoll ironisch. Ihre Kleidung – Jeans und ein Männerhemd – wirkte feminin, weil sie ihre üppige Figur betonte. Sie trug Schuhe mit flachen Absätzen und hatte ihr aschblondes Haar zu einem Nackenknoten gebunden.
» Bonjour , Jacques.« Sie ließ sich von Robbinet auf beide Wangen küssen, aber ihr Blick war schon auf seinen Begleiter
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