Das Buch der Illusionen
wäre an Kafka zu denken, der Max Brod aufgetragen hat, seine Manuskripte zu verbrennen, aber im entscheidenden Moment konnte Brod es dann nicht über sich bringen. Aber Frieda wird es tun. Daran gibt es keinen Zweifel. Einen Tag nach Hectors Tod wird sie seine Filme in den Garten tragen und verbrennen - alle Kopien, alle Negative, restlos alles. Das steht fest. Und wir beide werden die einzigen Zeugen sein.
Um wie viele Filme handelt es sich?
Vierzehn. Elf Spielfilme von mindestens neunzig Minuten Länge und drei andere, die unter einer Stunde laufen.
Aber das sind doch sicher keine Komödien, oder?
Bericht aus der Gegenwelt, Die Ballade von Mary White, Reisen in der Schreibstube, Hinterhalt in Standing Rock. Das sind einige der Titel. Die klingen nicht besonders lustig, stimmt's?
Nein, hört sich nicht nach dem üblichen Klamauk an. Aber doch hoffentlich nicht allzu finster.
Kommt drauf an, was man darunter versteht. Ich finde sie nicht finster. Ernst, ja, und oft ziemlich seltsam, aber nicht finster.
Und was verstehst du unter seltsam?
Hectors Filme sind außerordentlich intim, anspruchslos, alles andere als aufwendig. Aber sie haben alle durchweg etwas Fantastisches, etwas merkwürdig Poetisches. Er hat gegen viele Regeln verstoßen. Er hat Dinge getan, die ein Filmregisseur eigentlich nicht tun sollte.
Zum Beispiel?
Erzählerstimmen. So etwas wird in einem Film allgemein als Schwäche betrachtet, als Hinweis darauf, dass die Bilder selbst nicht funktionieren, aber Hector hat in einer Reihe von Filmen sehr viel Gebrauch davon gemacht. In einem davon, Die Geschichte des Lichts, gibt es keinen einzigen Dialog. Der Film wird von Anfang bis Ende von einem Erzähler kommentiert.
Was hat er sonst noch falsch gemacht? Ich meine, absichtlich falsch.
Er hatte mit Kommerz nichts mehr im Sinn, das heißt, seine Arbeit unterlag keinerlei Einschränkungen. Hector nutzte seine Freiheit, um Dinge zu erforschen, an die andere Filmemacher, zumal in den vierziger und fünfziger Jahren, sich nicht wagen durften. Nackte Körper. Realistische Sexszenen. Geburten. Urinieren, defäkieren. Diese Bilder wirken anfangs ein wenig schockierend, aber der Schock legt sich dann doch ziemlich schnell. All das gehört schließlich zum Leben dazu, aber da wir es nicht gewohnt sind, dergleichen im Kino zu sehen, rüttelt es uns erst einmal auf. Hector hat keine große Sache daraus gemacht. Sobald man begriffen hat, was in seinen Filmen alles möglich ist, verbinden sich diese sogenannten Tabus und freizügigen Stellen harmonisch mit der Gesamtstruktur der Geschichten. In gewisser Weise haben diese Szenen ihm sozusagen als Schutz gedient - für den Fall, dass ihm mal eine Kopie entwendet werden sollte. Er musste dafür sorgen, dass seine Filme nicht in der Öffentlichkeit gezeigt werden konnten.
Und deine Eltern haben bei alldem mitgemacht.
Die Filme waren Handarbeit, die Produktion völlig autark. Hector schrieb die Drehbücher, führte Regie und machte den Schnitt. Mein Vater war für Beleuchtung und Kamera zuständig, und wenn ein Film abgedreht war, erledigten er und meine Mutter sämtliche Laborarbeiten. Sie haben das Material entwickelt, die Negative geschnitten und sich um alles gekümmert, bis die endgültigen Kopien im Kasten waren.
Und das alles da draußen auf der Ranch?
Hector und Frieda hatten das Anwesen zu einem kleinen Filmstudio ausgebaut. Im Mai 1939 fingen sie damit an, im März 1940 waren sie fertig; sie hatten sich ein autarkes Universum geschaffen, ein Privatgelände zur Filmproduktion. Ein Gebäude mit zwei schalldichten Räumen, außerdem eine Zimmermannswerkstatt, eine Näherei, Garderoben und getrennte Lagerräume für Kulissen und Kostüme. Ein weiteres Gebäude war der Postproduktion vorbehalten. Da sie es nicht riskieren konnten, die Filme an ein kommerzielles Labor zu schicken, richteten sie sich ein eigenes Labor ein; das war in einem Flügel untergebracht, in dem anderen gab es einen Schneideraum, einen Vorführraum und ein unterirdisches Lager für die Kopien und Negative.
Die Einrichtung kann nicht billig gewesen sein.
Als alles fertig war, hatten sie über hundertfünfzigtausend Dollar ausgegeben. Aber das konnten sie sich leisten, und die meisten Sachen mussten ja nur einmal angeschafft werden. Mehrere Kameras, aber nur ein Overhead-Projektor, ein Paar Filmprojektoren und ein optisches Kopiergerät. Als sie alles Erforderliche beisammenhatten, arbeiteten sie nur noch mit streng begrenzten
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