Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
wurde mehr gesprochen. Kein Versuch, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.
Der Flur war menschenleer. Deutlich verspürte Dumpkin die Trauer, die sich wie eine dicke Wolke über das Internat gelegt hatte. Hin und wieder ein Wort oder ein leises, unterdrücktes Husten drang an seine Ohren. Kein Lachen, keine lauten Stimmen, nichts dergleichen, wie es sonst immer der Fall war. Nur das Knarren der Dielen unter seinen Füßen, als er die Stufen hinabschlich. Geräuschlos versuchte er die Eingangstür zu öffnen. Auch diese knarrte ein wenig. Plötzlich vernahm er ein kaum merkliches Schlurfen hinter sich. Erstarrt blieb er stehen. Rührte sich nicht von der Stelle. Sein Herz begann zu pochen. Dumpkin getraute nicht, sich umzudrehen.
„Hey Dumpkin“, sprach ihn eine Mädchenstimme an. Dumpkin zuckte noch mehr zusammen. Er kam sich vor, als sei er bei einem Diebstahl ertappt worden. Nur langsam wandte er sich um. Melanie. Dumpkin konnte es nicht fassen. Mit allem hatte er gerechnet, nicht aber mit Melanie. Ein Lächeln flog über ihren Mund, als sie in Dumpkins betroffenes Gesicht blickte.
„Du?“ brachte Dumpkin nur mühevoll über die Lippen.
„Wie geht es deiner verletzten Hand?“ fragte sie ihn unvermittelt.
„Meiner Hand?“ Dumpkin mußte sich zusammenreißen. Zu sehr steckte der Schreck in seinen Knochen. Auffällig musterte er den Verband.
„Wolltest du gerade hinaus?“ stellte sie ihm eine weitere Frage. Dumpkin hätte sich ohrfeigen können. Nicht ein Wort brachte er fließend über die Lippen. Statt dessen reichte es ihm wieder einmal nur zu einem Grinsen.
„Hast du was dagegen, wenn ich mit dir gehe?“ Erwartungsvoll wartete sie auf eine Antwort. Dumpkin versetzte es einen Hieb in die Magengegend. Hatte er richtig gehört? Hatte sie wirklich gefragt, ob sie mit ihm gehen darf? Noch konfuser blickte er sie an.
Melanie schien seine Gedanken zu erraten. „Ich meine hinaus“, setzte sie schnell hinzu. Geschickt verbarg sie ihre Betroffenheit, indem sie ein leichtes Hüsteln vortäuschte.
„Klar, äh – natürlich nicht“, antwortete Dumpkin etwas bestürzt. Gleichzeitig öffnete er vollends die Tür. Melanie folgte ihm, obwohl sie nicht genau wußte, woran sie nun war.
„Eigentlich dürften wir das ja gar nicht“, flüsterte sie Dumpkin zu, der sich sofort auf die Seite begab, wo es einigermaßen dunkel genug war, um nicht gleich gesehen zu werden. Melanie stellte sich dicht neben ihn. Lässig lehnte sie sich gegen die Hauswand. „Hast du eine Ahnung, warum wir nicht draußen sein dürfen?“ Überaus leise flüsterte sie. Auf gar keinen Fall wollte sie gehört werden. Dumpkin fühlte sich unwohl in seiner Haut. Da stand er nun, mit Melanie – ganz allein. Das Mädchen, das seine Pulsadern zum Rasen brachte. Und gefragt hatte sie ihn, ob er was weiß. Natürlich weiß er was! Dumpkin sträubte sich dagegen, Melanie anzulügen. Aber was sollte er machen? Am liebsten würde er sie ja in ihr Geheimnis einweihen. Aber was würden wohl die anderen dazu sagen?
„Pater Richmon sagte so seltsame Dinge“, sprach Melanie weiter, als Dumpkin ihr keine Antwort darauf gab.
„Es ist gefährlich, nachts“, erwiderte Dumpkin. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere. Melanie sah ihn unverständlich an.
„Ich meine, überhaupt so allein“, verbesserte er sich.
„Und du?“ entgegnete Melanie erstaunt. „Hast du keine Angst, erwischt zu werden?“
„Erwischt?“ tat Dumpkin unschuldig und grinste sie dabei an.
„Hast du schon das Neueste gehört?“ fragte Melanie weiter. Offensichtlich gefiel ihr Dumpkins Art, wie er sich momentan ihr gegenüber verhielt.
„Das – Neueste?“ Fragend musterte er sie von oben bis unten. Nun war es Melanie, die ein wenig grinste.
„Ich weiß es von Mr. Larsen, unserem Mathelehrer. Er hat zwar gesagt, ich solle es niemandem weitersagen, aber dir möchte ich es gerne anvertrauen.“
„Ich – fühle – mich geehrt“, stotterte Dumpkin. Nervös blickte er um sich.
„Weißt du, ich habe das mitbekommen, mit Mr. Sallivan.“
Dumpkin erschrak darüber. Bestürzt sah er sie an. „Was?“ hauchte er.
„Na das, daß er dich nicht leiden kann. Deshalb möchte ich, daß du es weißt.“
„Was denn?“ drängte Dumpkin. Ungeduldig wischte er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Mr. Sallivan ist entlassen worden“, rückte sie endlich mit der Sprache raus. „Aber versprich mir, daß du es nicht von mir weißt. Mr. Larsen hat es mir im
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