Das Buch der Toten
»Wo war, wo haben Sie Janie gefunden?«
»In der Nähe von Downtown.«
Waters entspannte sich. »Na also, da haben Sie's, das ist genau die entgegengesetzte Richtung. Melinda war nicht bei ihr. Melinda war drüben in der Westside.«
Schwinns verkniffene Augen zuckten kaum merklich zu Milos hin. Bowie Ingalls hatte am Freitag beobachtet, wie Melinda Janie abgeholt hatte; er hatte gesehen, wie die beiden Mädchen in Richtung auf die Trampermeile losgezogen waren. Aber es gab vorläufig keinen Grund, näher darauf einzugehen.
»Melinda wird zurückkommen«, sagte Waters. »Das macht sie ab und zu mal. Dass sie weg bleibt. Aber sie kommt immer zurück.«
»Ab und zu«, sagte Schwinn. »Vielleicht einmal pro Woche?«
»Nein, längst nicht so oft. Bloß dann und wann mal.«
»Und wie lange bleibt sie dann weg?«
»Eine Nacht«, antwortete Waters. Sie sank in sich zusammen, versuchte, ihre Nerven mit einem Zwanzig-Sekunden-Zug an ihrer Zigarette zu beruhigen. Ihre Hand zitterte. Sie musste sich mit der Tatsache abfinden, dass Melinda noch nie so lange nicht nach Hause gekommen war.
Dann schien sie neuen Mut zu schöpfen. »Einmal war sie zwei Tage weg. Ist ihren Vater besuchen gefahren. Er ist bei der Navy, hat früher in Oxnard gewohnt.«
»Wo lebt er heute?«
»In der Türkei. Ist dort auf einem Flottenstützpunkt stationiert. Vor zwei Monaten haben sie ihn versetzt.«
»Wie ist Melinda nach Oxnard gekommen?«
Eileen Waters biss sich auf die Unterlippe. »Getrampt ist sie. Ich werde ihm nichts sagen. Selbst wenn ich ihn in der Türkei erreichen könnte, würde ich doch nur Vorwürfe von ihm zu hören kriegen… und von seiner Schlampe dort.«
»Seine zweite Frau?«, sagte Schwinn.
»Seine Hure«, spie Waters hervor. »Melinda hat sie gehasst. Melinda wird wieder nach Hause kommen.«
Die weitere Befragung brachte nichts. Die Frau wusste nichts Genaueres über die »schicke Sause in der Westside«, ritt immer nur auf der Tatsache herum, dass der Fundort der Leiche am Rand von Downtown ein klarer Beweis dafür sei, dass Melinda nicht mit Janie zusammen gewesen sein könne. Es gelang ihnen, ihr ein Foto von Melinda zu entlocken. Anders als Bowie Ingalls hatte sie ein Fotoalbum für ihre Tochter angelegt, und wenn auch Melindas Teenagerjahre ein wenig spärlich vertreten waren, hatten sie immer noch eine ganze Seite voller Schnappschüsse, von denen sie einen aussuchen konnten.
Bowie Ingalls hatte Melinda Waters Unrecht getan. Sie war alles andere als fett, hatte im Gegenteil eine Traumfigur, mit hohen, runden Brüsten und einer Wespentaille. Das glatte blonde Haar reichte ihr bis zum Po. Einladende Lippen, zu einem umwerfenden Lächeln geformt.
»Sieht aus wie Marilyn, nicht wahr?«, sagte ihre Mutter.
»Vielleicht wird sie eines Tages mal ein Filmstar.«
Als sie zum Revier zurückfuhren, fragte Milo: »Wie lange wird es wohl dauern, bis ihre Leiche auftaucht?«
»Verdammt, wer soll das wissen?«, entgegnete Schwinn. Er betrachtete das Foto von Melinda. »Wenn man sich das hier so anschaut, könnte man meinen, dass Janie vielleicht das Appetithäppchen war und die hier das Hauptgericht. Sieh dir doch bloß diese Titten an. Damit könnte er sich eine ganze Weile vergnügen. Ja, ich kann mir lebhaft vorstellen, dass er sich mit der hier noch ein bisschen Zeit lässt.«
Er steckte das Foto ein. Vor Milos geistigem Auge tauchte eine Folterkammer auf. Das blonde Mädchen, nackt und in Fesseln… »Und was tun wir nun, um sie zu finden?«
»Gar nichts«, sagte Schwinn. »Wenn sie schon tot ist, müssen wir einfach abwarten, bis die Leiche auftaucht. Wenn er sie noch in seiner Gewalt hat, wird er's uns bestimmt nicht verraten.«
»Was ist mit der Party in der Westside?«
»Was soll damit sein?«
»Wir könnten West L. A. Bescheid sagen, den Sheriffs, den Kollegen von Beverly Hills. Manchmal gerät so eine Party aus dem Ruder, und die Jungs von der Streife kriegen einen Anruf von Nachbarn, die sich gestört fühlen.«
»Und dann?«, meinte Schwinn. »Sollen wir vielleicht bei irgendeinem reichen Arschloch klingeln und sagen:
›Entschuldigen Sie die Störung, aber sägen Sie vielle icht zufällig gerade an diesem Mädchen rum?‹« Er zog die Nase hoch, hustete, zog seine Flasche mit Hustensaft aus der Tasche und trank einen kräftigen Schluck. »Scheiße, war das staubig in der Bude von der Waters. Die typische amerikanische Mittelschicht-Mama. Auch so eine, die nur dem Alter nach erwachsen ist. Wer
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