Das Buch Gabriel: Roman
Zoll die Weinflaschen zu erklären und den Mogul darüber schmunzeln zu lassen, wie groß ich geworden bin.
Bei meiner Abreise war Smuts’ Chef Yoshida noch nicht verhört worden. Das bedeutet, Smuts kann noch freikommen, wenn man dem Boss die richtigen Anreize liefert, beispielsweise von Didier Le Basque. Trotz des auf mir lastenden Drucks war ich in der ersten Stunde des Flugs vollkommen begeistert von meiner Mission. Ich sah Smuts und mich schon lachend durch die baufälligen Straßen Ostberlins ziehen. Dann schniefte ich eine Line auf dem Klo, und meine Visionen verflüchtigten sich. Eine rauschmittelbedingte Inversion fand statt: Die Wirklichkeit erstrahlte plötzlich heller als die Hoffnung.
Was ein Schock war. Also machte ich mich daran, Wirklichkeit und Hoffnung, die beiden trügerischen Flussufer der Existenz, ein bisschen genauer zu betrachten. 25 In Wirklichkeit lande ich ohne Geld in Berlin und will einen Mann ausfindig machen, den ich als Kind zum letzten Mal gesehen habe und den ich dazu überreden soll, für einen Freund, der in Tokio im Gefängnis sitzt, ein Restaurant zu eröffnen. Die Hoffnung diktiert ein anderes Szenario: Mich erwartet ein unermessliches Imperium der Gastfreundschaft, in dem sich ein jovial Schultern klopfender Grande, der seine Geschäfte per Münzwurf abschließt, wohlwollend an mich erinnert.
Solcherlei Schattierungen des Potentiellen füllten den langen Flug nach München und den sehr viel kürzeren nach Berlin. Irgendwo zwischen diesen Möglichkeiten lag das Wahrscheinliche, aber wo, darauf kam ich nicht, und diese Unbestimmtheit, dieser Verlust des Fettgedruckten, verschob mich, den temporär Wahnhaften, in die Kategorie des dauerhaft Verrückten, der mit geklautem Geld und einer einzigen Wechselgarnitur ziellos durch die Weltgeschichte reist. Das ist das Objektiv der Wirklichkeit: Hüten Sie sich davor, mein Freund, ich warne Sie. Ich war ein Mensch von der Sorte geworden, wie man sie normalerweise erst viel später im Leben antrifft – im Hawaiihemd und mit mehr als einer Thai-Ehe hinter sich.
Ich brauchte eine ganze Weile, um damit klar zu kommen. Ich bestellte Courvoisier und Soda und lieferte mir mit jemandem namens Thong ein paar überflüssige imaginäre Schreiduelle, bei denen es um Geld ging, bevor ich das Gefühl hatte, mir wieder ein bisschen Hoffnung leisten zu können. Und tatsächlich: Es gibt einige hoffnungsfrohe Zeichen. Wenn mein Vater nach zwanzig Jahren den Club als Riesending bezeichnet, mag er damit recht haben oder nicht – sein Widerstreben, mich wegen der Dekadenz seines Ex-Partners hierherkommen zu lassen, verheißt auf jeden Fall Gutes. Warum sonst sollte er sich so anstellen? Das lässt wahren Exzess erahnen, einen reichen, abenteuerlustigen Libertin, genau die Person also, die wir suchen – jemanden, der zumindest eine gewisse Sympathie für unsere Situation hat. Vielleicht ist diese Situation auch gar nicht so irrwitzig. Vielleicht ist sie im Kontext eines Limbus vollkommen gang und gäbe. Denn erblicken nicht die großartigsten Geistesblitze immer aus einer Laune heraus das Licht der Welt? Ergreifen sie ihre Gelegenheiten nicht immer in sehr dünner Luft? Das ist Smuts’ angestammtes Terrain. Vielleicht hat unsere kleine Ausschweifung einfach nur seine Instinkte geschärft, ihn die uns umgebenden Möglichkeiten wahrnehmen lassen. Immerhin hat sich der Zickzack-Kurs seiner Karriere immer aus genau solchen Launen des Schicksals ergeben. Warum nicht Berlin? Ihm sind schon wundersamere Dinge passiert.
Das alles musste ich erstmal durchkauen, bevor ich mich wieder der Frage meines Todes widmen konnte. Was dann allerdings neues Unwohlsein zur Folge hatte. Natürlich kann ich nicht einfach sterben und Smuts im Gefängnis sitzen lassen. Sicher, ich habe ihn nicht mit vorgehaltener Waffe in den Ruin getrieben, Sie können das bezeugen – aber ich habe auch nicht gerade an seine höhere Natur appelliert. Ich bin mitschuldig, und das weiß er.
Unter dem einsamen Strahl einer Leselampe in einer rauschenden Flugzeugkabine hoch über der Nacht versuchte ich mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich mich selbst schachmatt gesetzt hatte. Aber wie in einem Traum zauberten daraufhin meine alten Feinde, die Verbrauchermärkte, ein wirkmächtiges Werkzeug aus dem Hut. Eine Argumentationsroutine, eine Art moralische Inversion, die neue Hoffnung spendete. Als ich beim Durchblättern des Bordmagazins die Vorgehensweise des heutigen kapitalistischen
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