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Das Buch Gabriel: Roman

Das Buch Gabriel: Roman

Titel: Das Buch Gabriel: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dbc Pierre
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könnte Öffentlichkeitsarbeit und Außenkommunikation übernehmen. Da kann Specht wohl kaum etwas dagegen haben. Es ist ein unverhoffter Glücksfall für ihn, und Gäste zu rekrutieren dürfte so einfach sein, wie seinen Clubbesuchern in den frühen Morgenstunden beim Nachhausegehen Flyer auszuhändigen. Kleine werbende Hinweise könnten auch auf den Karten an der Bar, auf den Garderobenmarken oder so auftauchen. Maskenbälle, Hummerschwänze. Michelin-Glamour.
    Als mir die Wahrheit klar wird, bleibe ich stehen: Meine Wünsche werden erfüllt.
    Das erste Bankett wird gleichzeitig mein Abschied sein.
    Whoosh – die Enthusiasmen. Der Scheitelpunkt ihres Kegels befindet sich in der Stadt meiner freien Kindheit, der Heimat letzter Unschuld. Was für ein Endspiel! Und wie befriedigend, sich in dem Moment zu verabschieden, wo Smuts und Specht zusammen am Beginn einer großen Unternehmung stehen.
    Sehen Sie nur, welch’ Symmetrie in all dem steckt.
    Die Großbeerenstraße ist eine unspektakuläre Straße mit einigen noch unsanierten Gründerzeithäusern. Ein Haus ist eingerüstet, und ein paar Türen weiter gibt es eine Kneipe: die Piratenburg. Auf einem Schild im Fenster steht »Raucherkneipe«, und pflichtschuldig trete ich ein. Ein umgänglicher Westberliner bringt mir Brandy und Kaffee und zündet mir über die Bar hinweg die Zigarette an. Neben mir hocken zwei ältere Einheimische, und nachdem ich ihnen zugenickt habe, wende ich meinen hypergeschärften Geist der Frage des Abschiedsbanketts zu.
    Also: Das Resultat meines Lebens ist armselig, darüber sind wir uns einig. Es hat eine derart miserable Qualität, dass es aberwitzig wäre, es zu feiern. Ein verschwendetes Leben. Dennoch – und jetzt kommt meine zentrale Botschaft an Sie, eine Botschaft, die Sie über diese seltsamen Tage und schwergewichtigen Seiten hinweg erreicht und die gleichzeitig die zentrale Erkenntnis meines Zustands ist:
    In mir schlummerten Kräfte, die nie eine Form gefunden haben.
    Denn Selbstachtung beruht nicht auf dem, was man tut, sondern auf dem, was man seinem Gefühl nach tun könnte . Es ist diese Reservekraft, diese unsichtbare Stärke, auf die ich zum Abschied anstoßen werde: Diese Kräfte in uns ähneln den Sonnengasen, wir spüren ihr Brennen nur gelegentlich und sehen ihre grausame, perfekte Schärfe manchmal in einem Nimbus am Werk; ihre vollumfängliche Entfesselung hätte uns sonst wohin führen können, nur nicht dahin, wo wir letzten Endes gelandet sind.
    Kräfte, die man matt »Potenzial« nennt, wenn ein Kind stirbt.
    Diese Kräfte sind das Einzige an mir, das ich vermissen werde.
    Denn sehen Sie, mein Freund: Alles, was man jemals als Liebe zum Leben bezeichnet hat, ist eine Liebe zu den Ereignissen, die niemals eintreten werden.
    Eine Liebe zu Träumen.
    Und deswegen werde ich auf die ungenutzten Kräfte in uns anstoßen, in Ihnen und in mir. Ich werde auf Ihr Wohl trinken und eine Träne vergießen für all das, was wir nicht gewesen sind. Aus diesem Grund, und nicht nur aus Überschwang, sollte unser Abschiedsdinner so glanzvoll sein wie nichts seit dem Fall von Rom. Ein Gastmahl des Trimalchio. Eine Nacht wie aus dem Satyricon . Ein Limbus, der sämtliche Zurückhaltung mit sich hinwegfegt, der Kegel eines derart hohen und reinen Nimbus, dass die Sterne in ihn stürzen. Dort, mein letzter mir wahrhaft nahestehender Freund, werden wir leben. Dort werden wir uns, endlich befreit aus unserem Käfig, in unserem Glanz erheben, zu Ehren all dessen, was wir nicht gewesen sind.
    Aber hätten sein können.
    Ich verdrücke mir tatsächlich eine Träne. Es ist fast vier. Obwohl der Wirt nicht in meine Richtung sieht, zieht etwas ihn zu mir und lässt ihn fragen, ob ich mehr Brandy brauche. Ich trinke noch ein schnelles Glas und stelle fest, dass es einen Fallschirmeffekt zeitigt und meinen Sturz in Richtung Gelassenheit abbremst. Vielleicht weil er spürt, dass ich von keinem bestimmten Ort komme und mein Ziel nicht in allernächster Nähe liegt, bietet der Mann mir an, meinen Sack zu hüten, während ich auf Wanderschaft bin. Ich danke ihm, ziehe die Flasche Symphony heraus und stecke sie mir in den Mantel.
    »Für einen Freund«, sage ich zur Erklärung.
    »Der kann sich glücklich schätzen«, sagt er.
    Die Nachmittagssonne scheint auf die Stadt draußen, und ich gehe bis ans Ende der Straße, wo ein Wasserfall einen Bilderbuchparklandschaftshügel hinabstürzt. Eine träge Gesellschaft, die den fernen Soundtrack aller

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