Das Büro
Karteikarten in der Stunde. Das sind also 20.000 Stunden. Eine Woche hat vierzig Stunden, das sind 5000 Wochen, ein Jahr hat fünfzig Wochen, das sind hundert Jahre. Nehmen wir an, dass wir zu fünft daran arbeiten, dann sind wir allein damit schon zwanzig Jahre beschäftigt. Und dann kommt jedes Jahr ein Fragebogen dazu.“
Beerta hatte zögernd, fast liebkosend, seine Hand auf den Griff des ersten Kastens gelegt. „Aber wir könnten doch schon mal mit dem
A
anfangen?“, sagte er, ohne Maarten zuzuhören, „du nimmst immer alles viel zu schwer.“
*
Beim Bäcker war es brechend voll. Während Nicolien die Eingangstreppe hinaufstieg und sich zu den Menschen gesellte, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, setzte er sich auf die unterste Stufe, ganz nach außen, in die Sonne. Er stützte seine Ellbogen auf die Knie und beobachtete den Verkehr. Es herrschte frisches, herbstliches Wetter. Der Wind wehte gelbe Blätter über den Bürgersteig. Sie glitten und taumelten zwischen den Schuhen der Passanten hindurch,häuften sich am Rand der Eingangstreppe auf, lösten sich wieder und wirbelten weiter die Rozengracht hinunter. Er betrachtete die Szene und fühlte sich nach Wochen des Eingeengtseins zum ersten Mal wieder halbwegs entspannt. Ein Hund kam vorbei, ein kleiner Hund mit kurzen Beinen, auf dem Weg zu einem Ziel, das nur er allein kannte. Maarten folgte ihm mit seinen Augen, bis er zwischen den Passanten aus dem Blickfeld verschwand, und sah dann zur Straßenbahn, die in voller Fahrt vorbeifuhr, etwa fünfzig Meter weiter abbremste und bei der Haltestelle an der Ecke Lijnbaansgracht zum Stehen kam. Es stiegen ein paar Leute aus, andere stiegen ein, die Türen schlossen sich, doch die Straßenbahn blieb vor der roten Ampel stehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Fahrer sich den Regeln fügte, vermittelte ihm ein Glücksgefühl, als gäbe dies dem Leben Sinn. Sein Blick blieb weiter auf die Bahn gerichtet, bis die Ampel wieder auf Grün sprang und die Straßenbahn sich in Bewegung setzte. Von seiner niedrigen Position aus beobachtete er die Menschen, die, ebenfalls mit ihren Einkäufen beschäftigt, vorbeikamen, und stellte fest, dass es noch früh war. Er dachte an Paris und fühlte sich wie im Urlaub. Noch zwei Wochen. Für einen Moment wanderten seine Gedanken zum Büro, wandten sich jedoch sofort wieder davon ab. An der Bordsteinkante stand ein alter Mann mit einem Stock. Er trug einen Regenmantel aus Gabardine und einen alten Hut mit einem Kniff in der Mitte, so wie ihn sein Vater und sein Schwiegervater früher getragen hatten. Er betrachtete den Mann aufmerksam und beschloss, dass es ein pensionierter Lehrer sein müsse, was erneut ein Glücksgefühl in ihm erzeugte. Ordnung muss sein. Der Mann hob seinen Stock hoch, ein Auto, das aus Richtung Westermarkt kam, bremste und hielt, der alte Mann schlurfte mit erhobenem Stock langsam über die Fahrbahn, an den Autos vorbei, die auch auf der Gegenfahrbahn für ihn angehalten hatten. Erst als er den Bürgersteig fast erreicht hatte, setzten sie sich wieder in Bewegung. Maarten nickte beifällig und sah auf. Dicht vor ihm hatten sich ein kleines Mädchen und ein Mann um die vierzig getroffen, allem Anschein nach ein Bauarbeiter mit einem vom Alkohol gezeichneten Gesicht. „Schau mal, was ich habe!“, sagte das Mädchen. Sie öffnete den Mund und tippte mit ihren Fingern aufdie Zähne. „Giftzähne!“ Der Mann betrachtete sie und schmunzelte. „Nein“, sagte er in plattem Amsterdamer Dialekt, „du meinst wohl Stiftzähne?“, und das rührte Maarten so sehr, dass ihm die Tränen in die Augen schossen.
*
„Ich sollte doch meinen Freund mitbringen?“, sagte Heidi – sie stand in der Tür – „Nun! Hier ist er!“ Sie drehte sich um. „Den Rest kannst du dann ja selbst übernehmen“, sagte sie in schneidendem Ton zu jemandem, der hinter ihr stand. Ein schmächtiger, ostindisch aussehender junger Mann betrat, an ihr vorbei, den Raum. Maarten stand auf.
„Ad Muller“, sagte der junge Mann, während er Maarten die Hand gab. Er hatte große, braune Augen und einen etwas naiven, erstaunten Gesichtsausdruck, als sei die Welt neu für ihn.
„Koning“, sagte Maarten mechanisch. Erst danach fiel ihm ein, dass er „Maarten Koning“ hätte sagen müssen.
„Ich habe gehört, dass Sie ein Wörterbuch machen“, sagte der junge Mann. „Ich würde gern dabei mitmachen.“ Er hatte ein eigenartiges, herausforderndes Lachen, als wollte er
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