Das doppelte Lottchen
sagen,
seelische Balance verloren hat. Aber lassen wir die Schrift beiseite!
Finden Sie es in Ordnung, daß Lotte neuerdings Mitschülerinnen
prügelt?«
»Mitschülerinnen?« Frau Körner hat die Endung absichtlich sehr
betont. »Meines Wissens hat sie nur die Anni Habersetzer
geschlagen.«
»Nur?«
»Und diese Anni Habersetzer hat die Ohrfeigen redlich verdient!
Von irgendwem muß sie sie ja schließlich kriegen!«
»Aber, Frau Körner!«
»Ein großes, gefräßiges Ding, das seine Gehässigkeit heimlich an den Kleinsten der Klasse auszulassen pflegt, sollte von der Lehrerin nicht noch in Schutz genommen werden.«
»Wie, bitte? Wirklich? Davon weiß ich ja gar nichts!«
»Dann fragen Sie nur die arme kleine Ilse Merck! Vielleicht
erzählt die Ihnen einiges!«
»Und warum hat mir Lotte nichts gesagt, als ich sie bestraft
habe?«
Da hat sich Frau Körner ein wenig in die Brust geworfen und
geantwortet: »Dazu fehlt es ihr wohl an der, um mit Ihnen zu
sprechen, seelischen Balance!« Und dann ist sie in den Verlag
gesaust. Um zurechtzukommen, hat sie ein Taxi nehmen müssen.
Zwei Mark dreißig. Ach, das liebe Geld!
Am Samstagmittag hat Mutti plötzlich den Rucksack gepackt und
gesagt: »Zieh die festen Schuhe an! Wir fahren nach Garmisch und kommen erst morgen abend zurück!«
Luise hat ein bißchen ängstlich gefragt: »Mutti – wird das nicht zu teuer?«
Der Frau Körner hat es einen kleinen Stich gegeben. Dann hat sie gelacht. »Wenn das Geld nicht reicht, verkauf ich dich unterwegs!«
Das Kind hat vor Wonne getanzt. »Fein! Wenn du dann das Geld
hast, lauf ich den Leuten wieder weg! Und wenn du mich drei- bis viermal verkauft hast, haben wir so viel, daß du einen Monat nicht zu arbeiten brauchst!«
»So teuer bist du?«
»Dreitausend Mark und elf Pfennige! Und die Mundharmonika
nehm’ ich auch mit!«
Das wurde ein Wochenende – wie lauter Himbeeren mit
Schlagsahne! Von Garmisch wanderten sie über Grainau an den
Baadersee. Dann an den Eibsee. Mit Mundharmonika und lautem
Gesang. Dann ging’s durch hohe Wälder bergab. Über Stock und
Stein. Walderdbeeren fanden sie. Und schöne, geheimnisvolle
Blumen. Lilienhaften Türkenbund und vielblütigen lilafarbenen
Enzian. Und Moos mit kleinen spitzen Helmen auf dem Kopf. Und
winzige Alpenveilchen, die so süß dufteten, daß man’s gar nicht fassen konnte!
Abends gerieten sie in ein Dorf namens Gries. Dort nahmen sie
ein Zimmer mit einem Bett. Und als sie, in der Gaststube aus dem Rucksack futternd, mächtig geabendbrotet hatten, schliefen sie
zusammen in dem Bett! Draußen auf den Wiesen geigten die Grillen
eine kleine Nachtmusik…
Am Sonntagmorgen zogen sie weiter. Nach Ehrwald. Und
Lermoos. Die Zugspitze glänzte silberweiß. Die Bauern kamen in
ihren Trachten aus der Kirche. Kühe standen auf der Dorfstraße, als hielten sie einen Kaffeeklatsch.
Übers Törl ging’s dann. Das war ein Gekraxel, sakra, sakra!
Neben einer Pferdeweide, inmitten Millionen Wiesenblumen, gab’s gekochte Eier und Käsebrote. Und als Nachtisch einen kleinen
Mittagsschlaf im Gras.
Später stiegen sie zwischen Himbeersträuchern und gaukelnden
Schmetterlingen zum Eibsee hinunter. Kuhglocken läuteten den
Nachmittag ein. Die Zugspitzbahn sahen sie in den Himmel
kriechen. Der See lag winzig im Talkessel.
»Als ob der liebe Gott bloß mal so hingespuckt hätte«, sagte
Luise versonnen.
Im Eibsee wurde natürlich gebadet. Auf der Hotelterrasse
spendierte Mutti Kaffee und Kuchen.
Und dann wurde es höchste Zeit, nach Garmisch
zurückzumarschieren.
Vergnügt und braungebrannt saßen sie im Zug. Und der nette
Herr gegenüber wollte unter gar keinen Umständen glauben, daß das junge Mädchen neben Luise die Mutti und noch dazu eine
berufstätige Frau sei!
Zu Hause fielen sie wie die Plumpsäcke in ihre Betten. Das
letzte, was das Kind sagte, war: »Mutti, heute war es so schön – so schön wie nichts auf der Welt!« Die Mutti lag noch eine Weile wach.
So viel leicht erreichbares Glück hatte sie bis jetzt ihrem kleinen Mädchen vorenthalten! Nun, es war noch nicht zu spät. Noch ließ sich alles nachholen!
Dann schlief auch Frau Körner ein. Auf ihrem Gesicht träumte
ein Lächeln. Es huschte über ihre Wangen wie der Wind übern
Eibsee.
Das Kind hatte sich verändert. Und nun begann sich also auch die Mutter zu verändern.
ACHTES KAPITEL
Herr Gabele hat zu kleine Fenster – Kaffeebesuch am Kärntner Ring
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