Das dunkle Erbe
Onkel Osterloh, als Raupach an ihm vorbei zum Aufzug eilte.
»Manchmal muss man einen Gang zulegen«, gab der Kommissar zurück. »Sonst hinkt man ewig hinterher.«
»Und manchmal muss man die Lück einfach nur laufen lassen. Und ihnen im richtigen Moment über die Schulter schauen.« Der Chef der Asservatenkammer war nie um eine kryptische Äußerung verlegen. »Ich frag mich, wann mal wieder Material bei mir eintrifft.«
»Kommt schon noch.« Onkel Osterloh hatte recht. Bislang hatten sie in immerhin drei Mordfällen auffällig wenig Beweismittel zusammengetragen. Es gab jede Menge Aussagen, aber etwas Handfestes war nicht dabei herausgesprungen. Von dem Ermittlungsauftrag an die Bonner Kollegen versprach sich Raupach jedoch, endlich einen Schritt vorn zu liegen.
Im Besprechungszimmer tauschten sie ihre Ergebnisse aus. Die Vernehmungen von Hilgers, Reintgen und Höttges vervollständigten die Profile der Opfer, ohne den Kreis der Verdächtigen maßgeblich zu erweitern. Raupach erzählte von Heides »Schatzkasten«-Interpretation in Bezug auf die ominöse Liste aus dem Schreibtisch und seinem Besuch bei Wenzels Nachkommin. Effie Bongartz trug den Laborbericht vor. Demnach ließ sich das Schriftstück auf Ende der sechziger Jahre datieren, es stammte aus der Hand Gustav von Barths, das hatte ein Vergleich mit von ihm verfassten bzw. unterschriebenen Dokumenten und eine Analyse des Papiers ergeben.
Photini und Niesken hatten unter anderem auch im Kölner NS-Dokumentationszentrum nachgefragt. Sie rekonstruierten die Vorgeschichte der Villa. Die Enkelin von Ernst Wenzel hatte, soweit überprüfbar, die Wahrheit gesagt.
David Springmann wohnte bis 1938 in dem Haus in Marienburg, er erwarb es bereits neunzehnhundertfünfundzwanzig. 1935 trennte er sich von seiner nichtjüdischen Ehefrau, das Paar hatte keine Kinder. Hedwig Springmann behielt ihren Nachnamen aber bei und emigrierte in die USA, wo sie das letzte N in »Springmann« offensichtlich strich. Sharon Springman könnte also von ihr abstammen. David Springmann ging 1938 ebenfalls nach Amerika, wahrscheinlich reiste er per Schiff, Transatlantikflüge waren damals noch selten und sehr teuer.
Ernst Wenzel lebte von 1938 bis 1945 in der Villa, zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, beide Kriegsteilnehmer. Springmanns Fabrik wurde von Wenzel arisiert, das Anwesen in Marienburg auf ihn überschrieben. 1945 zog General Graham C. Marsh ein und war dort bis 1949 tätig. Danach zog sich der Verkauf einige Monate hin. Seit 1950 war Gustav von Barth im Grundbuch als Besitzer eingetragen, ab 1970 dann Eva von Barth.
»Das wär’s in groben Zügen«, schloss Photini.
»Gibt es einen Schatz?« Raupach stellte die Frage an alle. »Ist so etwas vorstellbar?« Er hielt das kopierte Schriftstück hoch. »Bei Wenzels Enkelin habe ich expressionistische Bilder gesehen, die gehörten ihrem Großvater. Die Nazis haben diesen Stil als entartet eingestuft. ›Von Querköpfen und Revolutionären‹, heißt es in der Liste. Besaß Wenzel noch mehr davon? Da ist auch von Ölgemälden die Rede, so etwas bringt heute richtig viel Geld, je nachdem, von welchem Maler sie sind. War Wenzel am Ende des Krieges deswegen bankrott, weil er wertvolle Bilder gehortet hat?«
»Die Nazis haben auch viele Kunstschätze erbeutet«, fügte Niesken hinzu, ein stiller, hagerer Typ mit einem Kinnbärtchen. »Nicht wenige gelten bis heute als verschollen.«
»Was man so verschollen nennt.« Raupach nickte. »Jüdische Zeremonialobjekte, zum Beispiel alte Thorarollen, könnten damals ebenfalls verschwunden sein. Stieß Gustav von Barth also auf etwas, das er jedem verschwieg, sogar seiner Tochter?«
»Das ist nicht gesagt«, widersprach Photini.
»Warum sollte Eva die Liste sonst im hinterletzten Geheimfach aufbewahren?«, sagte Effie. »Wir haben übrigens ihre Fingerabdrücke auf dem Papier gefunden. Sie kannte die Liste also.«
»Vielleicht wollte sie nicht daran rühren?«, schlug Jakub vor. »Oder sie konnte die Liste nicht deuten und gab irgendwann auf.« Als Psychologe hatte er unzählige Erklärungen für Verstecke parat. »Gustav traute sich nicht, es ihr zu sagen. Oder er wollte sie nicht mit dem Wissen von dem Schatz belasten und der Nachwelt dennoch einen Hinweis darauf überliefern.«
»Oder er hat es Eva absichtlich nicht verraten«, setzte Photini hinzu. »Die beiden stritten sich oft, deshalb machte er ein Rätsel daraus. Damit sie es nicht zu leicht hatte.«
Raupach
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