Das dunkle Fenster (German Edition)
anderen Leichen zu untersuchen. Der zweite Mann war durch eine Kugel im Genick gestorben. Auch hier musste der Schütze von schräg hinter ihm gefeuert haben. Der dritte Mann lag ein Stück entfernt, halb versteckt im Unterholz. Er war der Einzige, der von vorn getroffen worden war.
Scheiße.
Das Kribbeln in seinem Nacken wurde stärker. Was hatte sich hier abgespielt?
Nikolaj und Carmen waren den Weg hochgekommen. Dann verloren sich ihre Fußspuren seitlich im Gebüsch. Wenn hier die erste Konfrontation stattgefunden hatte, war jedenfalls nicht Fedorow der Schütze gewesen, der die beiden Männer auf dem Weg getötet hatte. Wer dann?
Wieder vergegenwärtigte Rafiq sich die Augenblicke vor seinem Kampf mit Nikolaj. Es fühlte sich für einen Moment so an, als geriete der Boden unter seinen Füßen ins Schwanken. Irgendetwas lief hier, etwas, das er nicht verstand. Das beunruhigte ihn. Nein, es versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Abrupt wandte er sich von den Toten ab und begann den Bachpfad hinaufzustapfen.
Er musste Katzenbaum finden. Schnell.
40 Limassol | Zypern
Die Fähre nach Piräus war in den frühen Morgenstunden in den Hafen eingelaufen. Sie kam von Haifa und würde am Nachmittag in Richtung Rhodos weiterfahren. Mit großen blauen Buchstaben war der Name der griechischen Fährgesellschaft auf den Rumpf gezeichnet, Poseidon Lines.
Hinter der verzinkten Absperrung drängten sich die Menschen. Es war kurz nach elf; das Einsteigen hatte begonnen. Carmen stand breitbeinig über ihrer Tasche und betrachtete Nikolaj, der an der Mauer lehnte und rauchte. In diesen Klamotten sah er aus wie ein Rucksacktourist. Er trug zerschlissene Jeans und ein petrolfarbenes T-Shirt, darüber eine alte Drillichjacke, die sie in einem Laden für Gebrauchtkleidung erworben hatten. Die Nickelbrille verlieh ihm einen introvertierten Ausdruck. Carmen hatte sich die Haare rot gefärbt und ein paar Rastazöpfchen hinein gedreht. Ein wenig fühlte sie sich wieder wie die achtzehnjährige Revolutionsromantikerin, die losgezogen war, um die Welt zu verändern.
Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Nikolaj stieß sich von der Mauer ab und schulterte sein Gepäck. Carmen tat es ihm gleich. Sie klaubte den Reisepass aus ihrer Brusttasche, ein abgegriffenes Dokument voller Stempel, dem man nicht ansah, dass es erst gestern angefertigt worden war. Eva Maria Nielsen lautete der Name, Herkunftsland Dänemark. Carmen sprach eigentlich kein Dänisch, und unter anderen Umständen wäre das ein Problem gewesen, aber Nikolaj hatte entschieden, dass sie es eben darauf anlegen mussten. Für maßgeschneiderte Dokumente hätten sie mehrere Tage warten müssen. Zu lange. Deshalb hatte der Fälscher einfach zwei vorhandene Pässe umgearbeitet.
Langsam rückte die Schlange vor. Carmen erhaschte einen Blick auf die beiden uniformierten Beamten, die Fahrkarten und Pässe kontrollierten. Vor ihr wartete eine Familie mit drei Jungen. Lautstark stritten die Kinder um eine Wasserpistole.
Nikolaj ließ den Zigarettenrest fallen. Mit der rechten Hand schob er das Brillengestell nach oben. Carmen fiel zum ersten Mal das Narbengeflecht auf, das seinen Handrücken bedeckte.
Ich bin eingeknickt, als sie mir die rechte Hand zerschlagen haben
.
Sie dachte an die Unterhaltung, die sie während der nächtlichen Überfahrt nach Zypern geführt hatten. Der Gedanke löste eine Art diffuses Schuldgefühl in ihr aus. Sie versuchte den Grund auszuloten, während sie weiter den Disput zwischen den Kindern verfolgte. Lag es daran, dass sie seine Version der Ereignisse zuerst als Lüge abgetan hatte? Dass sie sie im Grunde immer noch nicht akzeptierte? Unwillig presste sie die Lippen zusammen. Er hatte nichts vorgebracht, das die Wahrheit seiner Behauptungen bewies. Doch das hatten die Israelis auch nie getan.
Aussage stand gegen Aussage – nicht mehr und nicht weniger. Und dann wurde ihr klar, dass sie wollte, dass seine Version die richtige war. Auch wenn das bedeutete, der anderen Seite – ihrer eigenen Seite – einen Verrat zuzugestehen.
Sie rückten ein paar Meter vor. Das Ehepaar mit den Kindern wurde durchgewinkt. Der Kontrolleur, ein kleiner adretter Levantiner, wandte sich Carmen zu. Reflexartig setzte sie ein Lächeln auf.
„Hallo“, sagte sie freundlich und reichte dem Mann ihre Papiere. Der Beamte warf nur einen kurzen Blick hinein, dann gab er sie ihr zurück. Mit einer gleichmütigen Handbewegung bedeutete er ihr, dass sie weitergehen konnte.
Als
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