Das dunkle Labyrinth: Roman
hatte, lange wach zu bleiben und das Haus später selbst zu verriegeln. Die Handschrift auf dem Umschlag identifizierte er als die von Havillands älterer Tochter, Mrs. Argyll. Rathbone dankte ihm.
An dieser Stelle erhob sich Dobie mit einem breiten Lächeln. »Das muss Ihnen sehr unangenehm gewesen sein.«
Cardman gab keine Antwort.
»Sahen Sie den Inhalt des Umschlags?«
Cardman reagierte verblüfft. »Nein, Sir, natürlich nicht!« Die Unterstellung, er würde die Post seines Dienstherrn lesen, empörte ihn sichtlich.
»Hat Ihnen Mr. Havilland vielleicht gesagt, was darin stand?«
»Nein, Sir.«
»Sie haben also keine Ahnung bezüglich seines Inhalts?«
»Nein, Sir.«
»Wissen Sie, wo dieser Brief jetzt ist?«
»Ich glaube, Mr. Havilland hat ihn zerstört.«
»Sie glauben?«
»So hat es mir das Dienstmädchen gesagt, das ihn ihm gebracht hatte.«
»Er hat ihn zerstört? Ich verstehe.« Dobie lächelte. »Damit ist vielleicht erklärt, warum Sir Oliver uns nicht das Recht eingeräumt hat, ihn zu lesen. Mr. Cardman, haben Sie irgendeinen Grund, welcher Art auch immer, zu glauben, dass dieser … Brief … etwas, welcher Art auch immer, mit Mr. Havillands Tod zu tun haben könnte?«
Cardman atmete tief durch. »Nein, Sir.«
»Ich auch nicht«, stimmte ihm Dobie zu. Er deutete ein Schulterzucken an und drehte beide Handflächen nach oben. »Niemand hat auch nur den geringsten Grund, das zu glauben!
Die erste Zeugin des Nachmittags war Melisande Ewart. Nachdem Runcorn seine Aussage gemacht hatte, stand es ihm frei, im Gerichtssaal zu bleiben. Er fand einen Platz weit entfernt von Monk. Dennoch nahm dieser deutlich wahr, dass Runcorn die Schultern straffte, die Fäuste ballte und die Augen nicht eine Sekunde von Melisandes Gesicht abwandte.
Sie zeigte sich ruhig, aber auf ihren Wangen erschienen zwei dunkle Flecken.
Rathbone stellte seine Fragen zurückhaltend und erhielt so nach und nach Auskunft über Runcorns und Monks Besuch bei ihr und das, was sie ihnen mitgeteilt hatte. Am Ende ließ er sie den Mann beschreiben, der aus der Remise gekommen und ihr über den Weg gelaufen war.
»Danke, Mrs. Ewart«, sagte er schließlich. »Bitte bleiben Sie noch, falls Mr. Dobie mit Ihnen sprechen möchte.«
Monk musterte erneut die Geschworenen. Ihre Gesichter verrieten ihm gespanntes Interesse und auch Zustimmung. Melisande war eine zarte und äußerst schöne Frau, und ihr Verhalten zeugte von einer stillen Anmut. Es wäre höchst töricht von Dobie, sie anzugreifen. Und doch tat er genau das.
»Sie haben gesagt, Sie waren auf dem Heimweg vom Theater, Ma’am?«, begann er.
»Ja.«
»Gegen Mitternacht?«
»Ja.«
»Etwas spät. Besuchten Sie nach dem Schlussvorhang noch eine Party?«
»Nein. Der Verkehr war sehr dicht.«
»Allerdings! Welches Stück haben Sie gesehen?« Offenbar wusste er die Antwort bereits.
»Hamlet.«
»Eine große Tragödie, die größte vielleicht, aber voller Gewalt und unnatürlichem Tod. Mord auf Mord. Einschließlich des Mordes an Hamlets leiblichem Vater! Wie es ihm am Ende zu beweisen gelang.«
»Ich bin mit der Handlung vertraut«, bemerkte sie kühl.
Runcorns Knöchel wurden weiß, während sich seine gro ßen Hände unentwegt ballten und lösten.
»Und als Sie dann zu Hause ankommen«, fuhr Dobie fort, »spät und durch eine der mächtigsten Tragödien der englischen Sprache schwer erschüttert, sehen Sie aus der Remise in Ihrer Nachbarschaft einen Mann auftauchen.« Was er sagte, klang rational, fast beruhigend. »Es ist dunkel, und er stößt beinahe mit Ihnen zusammen. Er entschuldigt sich für sein Ungeschick und seinen leicht angetrunkenen Zustand und geht weiter. Habe ich zutreffend zusammengefasst, was geschehen ist, Mrs. Ewart?«
Sie zögerte. Ihre Augen wandten sich hilfesuchend an Rathbone.
Runcorn erhob sich halb von seinem Sitz und ließ sich dann wieder sinken. Sein Gesicht war wutverzerrt.
Hester ergriff Monk am Arm. Ihre Finger bohrten sich schmerzhaft in seine Muskeln.
»Es ist nicht unzutreffend, Sir, wenn auch unvollständig«, erwiderte Melisande. »Der Mann war fremd in unserer Gegend, und er hatte in der Remise nichts zu suchen. Er hatte einen großen dunklen Fleck an der Schulter seiner Jacke. Ich fragte ihn nicht danach, aber er bemerkte, dass ich ihn gesehen hatte, und sagte, das sei Dung. Er sei in der Remise ausgerutscht und hingefallen. Aber das war eine Lüge. Er stand so dicht vor mir, dass ich Dung hätte riechen müssen. Es sah
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