Das dunkle Netz der Lügen
Es würde nicht lange dauern, bis ihm selbst Ähnliches bevorstand. Er hatte verzweifelt versucht, seine Fesseln zu lösen oder den Ring aus seiner Verankerung in der Wand zu reißen – aber es war vergeblich.
Irgendwann war Loiserl gekommen, hatte ihn losgekettet und mit sich geschleift. Ihm war nicht klar warum, aber offenbar wollte der Greifer ihn in seiner Nähe haben. Jetzt war er eine Etage unter dem Hauskeller in einem schmalen Raum mit niedriger Decke. Es war stockfinster, und so hatte er bald jegliches Zeitgefühl verloren. Nur sein Hunger und der Durst verrieten ihm, dass es schon Tage sein mussten, die er sich in diesem Verlies befand. Loiserl hatte ihm einen Krug mit Wasser und einen Kanten Brot dagelassen, bevor er ihn in der Dunkelheit zurückließ, aber beides war längst verzehrt.
Irgendwann würde Kellerer kommen, das wusste er. Und dann würde er ihn zu Tode foltern. Nicht, um etwas von ihm zu erfahren. Nicht einmal, um ihn für seine Untreue zu bestrafen. Mathis Kellerer würde ihn foltern, weil es ihm Freude bereitete. Hermann würde enden wie seine Frau Josefa.
Seit er und Zita zueinandergefunden hatten, hatte er nicht mehr an Josefa gedacht. Jetzt stiegen die furchtbaren Bilder wieder in ihm hoch. Und dann die Wut. Die Wut auf Zita, die ihn verraten hatte. Er erinnerte sich an Ulis Worte, als er ihn überwältigt und entführt hatte.
Mathis hat sie in der Hand
. Er hatte dem Satz keine Bedeutung geschenkt. Mathis hatte jeden in seiner Bande auf die eine oder andere Art in der Hand.Aber Tomasz war tot. Was gab es da noch, mit dem er Zita derart unter Druck setzen konnte?
Jemand an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Der Schlüssel drehte sich knarrend im Schloss, dann wurde die Tür quietschend aufgerissen. Die Laterne in der Hand des Mannes blendete ihn nach so langer Zeit in der Dunkelheit. Das Erste, was Hermann erkennen konnte, war ein glänzendes Messer. Es war also so weit. Mathis Kellerer war gekommen, um Spaß zu haben.
Zita hatte das Gefühl, bereits ewig durch die Schmugglertunnel zu stolpern. Wusste sie noch, wohin sie ging, oder hatte sie sich längst verirrt? Der Gang, den sie zuletzt genommen hatte, machte einen weiten Bogen. Sie bemerkte, dass die Wände und der Boden plötzlich wieder feuchter wurden.
«Wo führst du uns denn hin?», fragte Robert.
«Wir kommen wieder unter die Altstadt», sagte Schröder.
«Ich … ich weiß nicht.» Zita war verwirrt. «Vielleicht habe ich … Ich muss einen falschen Abzweig genommen haben.»
«Drehen wir um. Zurück zum letzten Punkt, an dem wir abgebogen sind.» Robert hielt die Laterne hoch und leuchtete in Zitas Gesicht. «Du kennst den Weg doch wirklich, oder?»
Zita versuchte sich zu erinnern, wo sie falsch gegangen war. «Ich weiß es, ja. Und wir müssen zurück.»
«Dann los.»
Robert und Zita drängten sich an Schröder und Kramer vorbei. «Sie beide löschen Ihre Laternen, wir müssen Brennstoff sparen. Falls wir uns verirren, will ich nicht ohne Licht hier unten stehen.»
Wenig später standen sie an der Stelle, an der sie zuvor abgebogen waren. Zweifelnd sah Zita in den Gang, der von der Laterne des Commissars notdürftig erhellt wurde. Sie ging ein paar Schritte hinein, dann kam sie wieder zurück. «DenRaum dort habe ich noch nicht gesehen. Wahrscheinlich bin ich schon vorher falsch gegangen.»
«Aber wir sind sicher eine Viertelstunde in diese Richtung hier gelaufen», sagte Kramer missmutig.
«Ich … ich bin aufgeregt. Es tut mir leid.» Zitas Stimme zitterte. Sie fürchtete, zu spät zum ausgemachten Punkt zu kommen, und die Angst um Resi wurde immer größer.
Robert legte ihr die Hand auf die Schulter. «Versuche, ruhig zu bleiben, Zita. Ich weiß, du hast Angst um deine Tochter, aber wir können ihr nur helfen, wenn du dich zusammenreißt und den richtigen Weg findest.»
Die Hand fühlte sich gut an, warm und stark. Commissar Borghoff hatte sie von Anfang an gut behandelt. Er war ihr hierher gefolgt, um ihr zu helfen. Sie schloss kurz die Augen. Ich muss mein Kind retten
,
dachte sie. Ich kann keine Rücksicht auf andere nehmen.
«Lassen Sie uns wieder zurückgehen. Ich glaube, ich weiß, wo ich den Fehler gemacht habe.»
Der Greifer hatte sich wie ein Kind, das mit hoher Konzentration in sein Spiel vertieft war, ans Werk gemacht. Er hatte Hermann hochgezogen, auf die Füße gestellt und fast sanft an die Wand gelehnt. Dann hatte er begonnen, von dem Tag zu erzählen, als er Hermanns
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