Das dunkle Netz der Lügen
heftig. «Wem sonst? Sie hauste in dieser Nische zwischen den beiden Häusern, bis sie krank wurde.»
«Aber sie war eine Bettlerin. Woher soll sie so viel Geld gehabt haben?»
«Sie war doch völlig verrückt. Vielleicht hatte sie es vergessen.» Martha verdrehte die Augen. «Das Gold gehört mir. Ich habe mich immer um sie gekümmert, es steht mir zu.»
«Ich will meinen Finderlohn», beharrte Grote.
«Frau Bromann, Grote hat recht. Ihm steht Finderlohn zu.»
Martha schnaufte. «Wie viel?»
«Gewöhnlich zehn Prozent. Vierzehn Goldthaler.» Robert wandte sich an Grote. «Wären Sie damit zufrieden, oder wollen Sie es genau ausrechnen?»
«Nein, vierzehn Goldthaler sind genug.» Er grinste Martha an. «Ich hätte nur zehn genommen …»
«Und dann fallen noch Steuern an, Frau Bromann», fuhr Robert fort.
«Steuern? Aber …»
«Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich vergesse, dass Sie beide hier gewesen sind, aber Sie machen eine Spende an die Stadtkasse. Und seien Sie nicht zu knauserig.»
Martha griff nach den Münzen und zählte Grote vierzehn in die Hand. Dann zählte sie weitere zehn Münzen ab und gab sie Robert. «Reicht das?», fragte sie.
«Sicher, Frau Bromann. Sie können das Kästchen mitnehmen.»
«Das Kästchen interessiert mich nicht. Ich nehme nur das Geld mit.» Sie griff nach den Geldkatzen und ließ sie in ihrem Beutel verschwinden, der sich durch das Gewicht des Goldes merklich in die Länge zog.
Sie verabschiedete sich und Grote folgte ihr.
Robert nahm die zehn Thaler und brachte sie zum Schreiber des Bürgermeisters. «Das ist eine Spende von Frau Martha Bromann an die Stadtkasse. Und sagen Sie dem Bürgermeister, er möge nicht weiter danach fragen.»
Das würde Weinhagen ohnehin nicht tun, und er würde dafür sorgen, dass der Name der dicken Martha nicht in den Büchern der Stadt erschien.
Als Robert am Abend nach Hause kam, hatte er Kätts Kästchen bei sich. Nach dem Abendessen, als er im kleinen Salon mit Lina zusammensaß, gab er es ihr und erzählte, was passiert war. Auch Lina konnte sich nicht erklären, wie Kätt an so viel Geld kam und vor allem, warum sie es nie angerührt und stattdessen gebettelt hatte.
«Ich weiß, dass dir Kätt sehr am Herzen lag», sagte Robert. «Du hast Martha immer etwas für sie zugesteckt, hast dich immer gekümmert. Warum? Was verbindet dich mit ihr?», fragte er neugierig.
«Weil ich Kätt kannte, bevor sie eine Säuferin wurde.» Sie stand auf. «Ich hätte Lust auf einen Likör zu Kätts Ehren. Du auch?»
Robert nickte. «Gern.»
Lina hatte noch einen Rest Quittenlikör im Schrank, denClara Verwerth in ihrem letzten Jahr in Ruhrort angesetzt hatte, und goss beiden ein. Sie nippten an ihren Gläsern, und Lina setzte sich wieder auf das bequeme Sofa. Das Kästchen stand vor ihr auf dem Tisch, und sie öffnete es. Es lag ein Brief darin, ein Liebesbrief, aber kein Hinweis, woher das Geld stammen könnte. Er trug nicht einmal eine Unterschrift, nur «Dein Liebster» stand darunter. Als sie ein weiteres Papier auseinanderfaltete, fiel ihr ein kleiner goldener Anhänger entgegen, ein Kreuz.
«Ja, das war wirklich Kätts Kästchen», sagte sie leise. «Als ich damals von der Genesungsreise aus Italien zurückkam, hatte sich viel für mich verändert. Mina und ich waren immer sehr wild gewesen und konnten durchaus mit den Straßenkindern der Altstadt mithalten. Aber nach alldem war das vorbei. Ich war das Hinkebein, die krumme Lina. Und ich war erst zehn Jahre alt.»
Sie schwieg einen Moment und dachte an jenen Tag, als die anderen sie hatten stehenlassen, weil sie in den Tümpeln an der Woy nach Kaulquappen suchen wollten, allen voran ihre Zwillingsschwester Mina.
Dieser Tag, der erste richtige Frühsommertag nach einer langen Regenperiode, war ihr noch so im Gedächtnis geblieben, als wäre es gestern gewesen.
«Lina», hatte Levin überrascht gerufen. «Was machst du denn hier so allein?» Der junge Levin Heinzmann war neunzehn, arbeitete aber schon verantwortlich in der väterlichen Firma mit. Fast wären sie zusammengestoßen.
«Die anderen sind zur Woy gerannt. Ich … ich bin zu langsam.»
Mitleidig hatte Levin die Kleine angesehen. «Ich muss zum Hafen, eines unserer Schiffe ist heute Morgen eingelaufen. Möchtest du mitkommen?» Er hielt kurz inne. «Wenn du das schaffst, meine ich.» Er fragte nicht, ob sie das durfte.
«Das schaffe ich. Wenn du nicht rennst.»
Er lächelte. «Nein, ich werde nicht
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