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Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge

Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge

Titel: Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Miller
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stillstehen. Der Lärm störte mich nicht, die durchgelegene Matratze störte mich nicht, das klappernde Fenster störte mich. Ich setzte mich auf, tastete auf den Nachttisch, wo meine Papiere lagen, fand ein kleines Stück Pappe und klemmte es zwischen die Fensterfugen. Nachdem ich mich zur Seite gedreht hatte, fiel mir ein, was ich da ins Fenster geklemmt hatte, Davids Visitenkarte. Seine Nähe, sein Rat hatten mir gutgetan, der Tag mit ihm war besonders gewesen, doch ich hielt es für unwahrscheinlich, dass ich je von seiner Karte Gebrauch machen würde. Wo sie jetzt steckte, hatte sie eine sinnvolle Funktion, das Klappern hatte aufgehört. Im Lärm der Motoren schlief ich ein.

9
    Ich hielt mich bereits drei Tage bei Dora auf, nicht besonders froh, nicht besonders unglücklich; ich befand mich in einer Zwischenwelt. Ich kaufte für unseren Haushalt ein und genoss es, die gute Fee zu sein, die einen Hauch Luxus in die Bude brachte. Hautfreundliche Seife, ein Parfum, das Dora liebte, weil es einen französischen Namen trug, Zigarren für Eddie, teures Dosenfutter für Benjie.
    »Was das Vieh da frisst, ist feiner als das meiste, was Ernie und ich in den letzten Monaten auf den Tisch gekriegt haben.« Dora räumte den Kühlschrank ein. Riesengarnelen auf Spießen, Straußensteaks, tiefgekühlte Eistorte. »Mit meiner kleinen Nichte zieht das Schlaraffenland bei uns ein.« Sie umarmte mich, dass mir der Atem wegblieb.
    Am vierten Tag endlich rief Karen an. Sie war besorgt, weil sie mich zu Hause nicht erreicht hatte. Ich berichtete von Dora und Ernie und ließ sie dann von ihrer Tagung erzählen. Als sie das Thema Job spürbar ausklammerte, wurde ich unruhig. Die Angst vor Arbeitslosigkeit ließ mein Herz klopfen.
    »Ich habe vielleicht etwas für dich«, sagte Karen endlich. »Es ist nicht das, was du bis jetzt für uns gemacht hast, aber …« Sie suchte die richtigen Worte. »Es ist ein Jugendbuch.«
    »Wunderbar, warum nicht?« Ich gab mich optimistisch, um es ihr leichter zu machen.
    »Wir könnten dir dafür allerdings nicht dein übliches Honorar zahlen.«
    Ich schluckte bei dem Betrag, der erschreckend niedrig war, hörte Karens Unbehagen, mir nichts Besseres anbieten zu können, und sagte trotzdem zu. Es war schließlich ein Anfang. Ich nahm mir vor, den neuen Verleger von meinen Qualitäten zu überzeugen. Zu guter Letzt war die Stimmung am Telefon richtig fröhlich. Als ich auflegte, hatten wir eine Dreiviertelstunde geplaudert. Ich vermisste sie und war trotzdem froh, nicht in Toronto sein zu müssen.
    Als Dora in mein Zimmer kam, hatte ich eine Idee.
    »Weißt du was, ich richte für uns ein Konto ein, auf das wir alle drei Zugriff haben.« Ich stutzte. Klang das nicht, als ob ich länger in Niagara Falls bleiben wollte?
    »Ernie braucht keinen Zugriff«, antwortete sie.
    »Hör mal, er ist dein Mann. Er hat zu dir gehalten, als du …«
    »Darum geht es nicht. Ernie ist mein Sonnenschein, ohne ihn wäre ich längst tot. Trotzdem nützt ihm der Kontozugriff nichts.«
    »Wieso nicht?«
    »Hast du das nie mitgekriegt?« Sie trat einen Schritt zurück.
    »Was mitgekriegt?«
    »Er ist Analphabet. Ernie kann weder lesen noch schreiben.«
    Einen Augenblick war es still. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich ihn je Zeitung lesen oder ein Kreuzworträtsel lösen gesehen hatte. »Aber wieso nicht?«, flüsterte ich, als ob er uns belauschen würde.
    »Er hat es einfach nie gelernt. In Griechenland nicht, und hier hat es sich nicht ergeben. Um Friseur zu sein, ist Schreiben nicht erforderlich.« Mit der erstaunlichen Neuigkeit ließ sie mich zurück. Gleich darauf zog der Geruch von Straußensteaks durch das Haus.
    In dieser Nacht weckte mich ein Geräusch, das mit dem Lärm auf dem Parkplatz nichts zu tun hatte. Es war ein Schmerzenslaut, fast unhörbar, und doch so intensiv, dass ich aufstand, auf dem oberen Flur lauschte und in Doras Schlafzimmer ging. Ernie saß am Bett, seine Hand auf ihrer Stirn. Er sprach nicht zu ihr, sondern machte tiefe, beruhigende Laute.
    »Was ist los?«
    »Wir haben Anfang September, der Sommer ist zu Ende. Jetzt gehen die Schübe wieder los«, sagte er.
    »Schübe?«
    »Spürst du nicht, wie feucht es hier überall ist? Das kommt von den Fällen.« Er zuckte die Schultern. »Die Niagarafälle bringen deine Tante um.«
    Dora war wach, doch sie schien unfähig, sich zu bewegen. Ihre Finger umklammerten die Bettdecke, hexenhaft verkrümmt, wie Klauen.
    »Chronische Polyarthritis«,

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