Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
Treppe hinunter.
33
Zu Beginn der Fahrt tauchte die Morgendämmerung die kleinen Ortschaften oberhalb der Küste in rosafarbenes Licht. Olivenhaine und Obstplantagen wechselten sich ab, die Schönheit dieser Stunde war nicht zu übertreffen. Kurz darauf regnete es in Strömen. Die Wol ken waren vom Meer aufgetaucht und hatten das Verheißungsvolle des Morgens verschluckt. Ich erreichte Draguignan über die Schnellstraße und zweigte dahinter in die Berge ab. Die Gipfel waren in Nebel gehüllt. Müde fuhr ich mir über die Augen, der Alkohol machte sich bemerkbar. Ich bedauerte, an der Autobahn keinen Kaffee getrunken zu haben; hier im Niemandsland würde ich kaum ein Lokal finden. Niemandsland , dachte ich, war das der Ort, an dem ich Pascal wiederbegegnen sollte?
Benommen vor Müdigkeit begann ich vor mich hin zu spinnen. Angenommen, ich fände eine Spur von Pascal, angenommen, ich fände ihn selbst – was würde ich tun? Ihm die Dinge vorhalten, die er sich hatte zuschulden kommen lassen, ihm verzeihen, in seine Arme fliegen? Würde ich ihn an Stein ausliefern? Ich war immer noch Pascals Frau. Würde ich ihm bei der Flucht helfen, ihn vielleicht sogar begleiten? Sah ich mich nicht längst als seine Witwe an? Seit er sich in Rio von mir verabschiedet hatte, war er nicht nur verschwunden, er hatte sich vor meinen Augen regelrecht aufgelöst. Den Pascal, in den ich mich verliebt hatte, gab es nicht mehr. Es gab uns nicht mehr. Und doch war ich mit dem Ziel unterwegs, ihn zu finden, ihn wiederzusehen. Allein fuhr ich in eine unbekannte Bergwelt, der Nebel war ein Sinnbild meiner Situation.
Ich riss die Augen auf, die Müdigkeit, meine wirren Gedanken hatten mich beinahe einschlafen lassen. Die Felswand war gefährlich nahe gekommen. Ich starrte in den Regen. Die Strecke war ein ununterbrochenes Auf und Ab, die vielen Kurven brachten meinen Magen in Aufruhr. Ich wollte halten, frische Luft schnappen, aber es gab keinen Standstreifen. Mitten auf der Straße blieb ich stehen und stieg aus. Rund um mich nichts als Wald. Ich beugte mich in den Wagen, prüfte die Anzeige auf dem SDL und stellte fest, dass das Gerät keine Straße mehr anzeigte, auch kein Ziel. Hier gab es kein Satellitensignal. Hatte ich eine Abzweigung verpasst und mich verfahren? Ich sprang ein paarmal auf und ab, um meinen Blutdruck in Gang zu bringen, und stieg wieder ein. Zwischen Föhren und Kiefern ging es weiter, den nächsten Hügel hinauf.
An der höchsten Stelle erwartete mich ein verwittertes, kaum lesbares Schild: La Cébette. Ich versuchte den Wald mit den Augen zu durchdringen. Das sollte es sein? Die Gegend hatte nichts Außergewöhnliches, keinen Anreiz; warum sollte sich Pascal hier ein Haus gekauft haben? Ich fuhr weiter. Nach wenigen Hundert Metern tauchte eine Tankstelle auf; zumindest stand dort eine Zapfsäule. Das Neonschild über dem Eingang wirkte uralt. Obwohl es gerade mal sieben Uhr früh war, hatte die Tankstelle offen. Ich trat in das niedrige Gebäude.
»Guten Morgen, Madame«, begrüßte mich der junge Mann hinterm Tresen. »Volltanken?«
»Nein, ich möchte Kaffee.«
»Tout de suite.« Er hantierte an der Maschine.
»Ich hätte gern von denen …« Ich zeigte auf die Croissants in der Vitrine.
»Bitte bedienen Sie sich.«
Ich nahm zwei Stück und biss hungrig hinein. Der Kaffee kam in einer henkellosen Schale. Nach der frostigen Anreise tat die Wärme gut.
»Wo soll es hingehen?« Er füllte die Croissants auf.
»Ich suche das Haus der Zuermatts.«
»Dann sind Sie fast am Ziel. In den Ort hinein und an der Kapelle rechts. Wo es nicht mehr weitergeht, ist La Cébette. «
Ich leckte mir über die Lippen. »Ich dachte, das Dorf heißt La Cébette.«
»So ist es. Das Dorf wurde nach dem Herrenhaus benannt. Früher wohnten dort der Graf und die Baronesse. Nachdem er gestorben war, verkaufte sie das Anwesen an die Schweizer.«
»Dann gehört es den Zuermatts noch nicht lange?«
»Gerade mal …« Er rechnete nach. »Drei Jahre.«
»Wer hat es gekauft, die alte Dame, Madame Zuermatt?«
Er schüttelte den Kopf. »Ihr Sohn.«
Die Schale in der Hand, hielt ich inne. Pascal hatte das Haus gekauft, nachdem wir bereits zusammen gewesen waren. Er hatte mir nie etwas davon erzählt. War das nicht der Beweis, dass er sich einen Fluchtort zugelegt hatte, den er vor mir geheim hielt? Ich schaute hinaus, der Regen ließ nach, die Umgebung wurde realer. Ich tauchte mein Hörnchen in den Kaffee. Was immer mich dort
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