Das Echo der Schuld
schon wach«, behauptete Liz. Schließlich war sie ja dankbar, dass jemand ihren verzweifelten Traum beendet hatte.
»Mein Mann ist endlich eingeschlafen«, sagte Claire, »er hat seit … seit er …« Sie holte tief Luft. »Seit er Rachel identifiziert hat, konnte er nicht mehr richtig schlafen. Jetzt schläft er ganz tief. Ich möchte ihn nicht wecken.«
»Ich verstehe.«
»Aber ich werde fast verrückt. Ich muss immerzu reden. Wenn ich schweige, meine ich zu ersticken. Ich muss über Rachel reden. Über das, was … mit ihr geschehen ist.«
»Das ging mir in den ersten Tagen ganz genauso«, sagte Liz.
Sie entsann sich ihrer vergeblichen Versuche, mit ihrer Mutter in ein Gespräch zu kommen. Sie hatte fast gebettelt. Aber natürlich hatte ihre Mutter nicht reagiert.
»Mein Mann hat mir erzählt, dass Sie angerufen haben«, sagte Claire, »und dass Sie angeboten haben, mit mir zu sprechen. Ich weiß, ich sollte trotzdem nicht um halb sieben …«
»Nein, wirklich, machen Sie sich keine Gedanken. Ich bin froh, dass Sie mich anrufen. Ich … brauche auch jemanden zum Reden.«
»Wir haben inzwischen unsere Telefonnummer geändert«, sagte Claire, »es haben so viele Leute angerufen. Vor allem Journalisten. Aber ich möchte nicht mit Journalisten sprechen. Die vermarkten doch nur den Tod meines Kindes.«
Liz dachte an die Talkshow, in der sie kurz nach Sarahs Tod gewesen war. Erst später war ihr aufgegangen, wie sehr man sie benutzt hatte.
»Ja, da muss man vorsichtig sein«, bestätigte sie.
»Könnten Sie … ich meine, könnten wir uns vielleicht einmal treffen?«, fragte Claire schüchtern. »Ich weiß nicht, ob Sie Zeit haben, aber …«
»Ich habe Zeit. Wollen wir gleich etwas ausmachen? Heute Vormittag?«
»Das wäre wunderbar!« Claire klang erleichtert. »Vielleicht irgendwo in der Innenstadt. Ich könnte mit dem Bus dorthin kommen. Ich kann nicht Auto fahren, weil ich so viele Tabletten nehme.«
Sie einigten sich auf ein Cafe am Marktplatz um elf Uhr.
»Ich habe Sie im Fernsehen gesehen«, sagte Claire, »ich werde Sie erkennen.« Zögernd fügte sie hinzu: »Sie taten mir so entsetzlich leid damals. Ich ahnte nicht, dass ich selbst so bald darauf …« Sie verstummte. Betäubt von der Wucht des Schmerzes, der sich kaum aushalten ließ.
Scheißkerl, dachte Liz, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Sie starrte zur Decke hinauf. Scheißkerl! Er zerstört die Kinder, und er zerstört alle um sie herum. Verdammter Scheißkerl!
Da es klar war, dass sie nun nicht mehr einschlafen würde, stand sie auf, zog ihren Bademantel an und streifte dicke Socken über ihre ewig kalten Füße. Sie zog die Vorhänge zurück und blieb am Fenster stehen, starrte hinaus in das zaghafte Erwachen des schon herbstlich gefärbten Morgens.
Sie überlegte, ob sie, als sie gerade das Wort zerstört gedachte hatte, auch sich selbst gemeint hatte. Es war eine schreckliche Vorstellung, zerstört zu sein. Als zerstört hatte sie immer ihre Mutter empfunden, und sie hatte sich geschworen, dass ihr dieses Schicksal erspart bleiben sollte. Sie war noch so jung. Sie wollte leben. Lachen, tanzen, fröhlich sein. Lieben. Es wäre so schön, irgendwann einen Mann zu treffen, den sie liebte und der ihre Gefühle voller Ehrlichkeit und Wärme erwiderte. Aber konnten zerstörte Frauen noch lieben?
Regenschwere Wolken am Himmel. Schon wieder. Der Sommer hatte sich wirklich verabschiedet. Vielleicht brauchte sie Sonne, damit es ihr besser ging.
Das war zumindest so etwas wie ein Plan. Ein Gedanke, eine Perspektive. Wie das genau aussehen sollte, wusste sie nicht. Aber die Vorstellung, wegzugehen, irgendwohin, wo es warm war, versorgte sie zum ersten Mal seit jenem Augusttag in Hunstanton wieder mit einem Anflug von Energie. Positiver Energie. Ein anderes Land. Spanien. Südfrankreich. Italien. Sonne und blauer Himmel, Olivenbäume, hohes, trockenes Gras, das sich im heißen Wind wiegte. Nächte unter samtschwarzem Himmel. Das rauschende Meer, warmer Sand unter den Füßen. Nie wieder hinter der Kasse in der Drogerie sitzen. Nicht länger dem körperlichen, seelischen und moralischen Verfall ihrer Mutter zusehen müssen. Und vielleicht noch mal Kinder haben. Nicht als Ersatz für Sarah. Sondern als Vertrauensbeweis an das Leben.
Den Kopf an die Scheibe gelehnt, fing sie an zu weinen.
3
Der Wind, der sie am Vorabend in Kyle of Lochalsh begrüßt und dafür gesorgt hatte, dass sie im gleißenden Abendsonnenlicht die
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