Das Echo der Schuld
Brücke nach Skye überqueren konnten, war über Nacht zum Sturm geworden. Frisch und kalt kam er über das Meer gejagt, fegte heulend über die Insel. Die Wellen draußen türmten sich zu meterhohen Brechern auf. Die Bäume bogen sich bis fast zur Erde. Über den Himmel rasten Wolkenfetzen, getrieben von einer wütenden Kraft, ballten sich zwischendurch zu hohen Türmen zusammen und wurden dann gleich darauf wieder auseinandergerissen und weitergewirbelt.
Virginia erwachte vom Pfeifen und Toben um sie herum und wunderte sich, dass sie trotz allem so tief und fest geschlafen hatte. Wahrscheinlich hatte die lange Autofahrt sie völlig erschöpft. Die Müdigkeit war am gestrigen Abend jäh und schlagartig über sie hergefallen. Ganz plötzlich hatten sie alle Energie, alle Kraft verlassen. Sie hatte das Haus aufgeschlossen, war hinauf in ihr Zimmer geschlichen, hatte es gerade noch geschafft, sich das Bett zu beziehen, ihre Zähne zu putzen, in einen Schlafanzug zu schlüpfen. Dann lag sie schon zwischen den weichen Kissen und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Es war sieben Uhr, der Tag brach gerade herein. Durch ihr Fenster konnte sie den Himmel sehen. In den Lücken zwischen den Wolken trug er kühle Pastellfarben. Später würde er in ein leuchtendes Blau übergehen.
Sie sprang aus dem Bett, fröstelte in der kalten Luft. Sie hatte nicht mehr die Kraft gehabt, die Heizung im Haus anzuschalten, hatte sich sofort unter die Bettdecken geflüchtet. Rasch zog sie ihren warmen Wollpullover über den Schlafanzug, schlüpfte in ihre knöchelhohen, dick gefütterten Hausschuhe. Mit wirren Haaren und ungewaschenem Gesicht kam sie sich wie eine Vogelscheuche vor, aber das war ihr gleichgültig. Sie brauchte rasch einen Kaffee. Mit einer großen, heißen Tasse würde sie sich dann wieder in ihr Bett zurückziehen und den Tag ganz langsam beginnen. Nathan schlief sicher noch.
Als sie jedoch ins Wohnzimmer trat, stand er dort bereits am Fenster. Er trug Jeans, dazu einen Rollkragenpullover von Frederic, der ihm wie üblich an den Schultern zu eng war. Es roch nach Kaffee im Zimmer. Nathan hatte einen Becher in der Hand.
Er wandte sich nicht um, aber er hatte ihr Kommen offenbar bemerkt, denn er sagte: »Hast du das Licht draußen gesehen? Den Sturm? Die Wolken? Es ist unglaublich.«
Sie nickte, obwohl er das nicht sehen konnte. »Ein fantastischer Tag. Solche Tage machen mir immer wieder klar, weshalb ich den Norden so liebe.«
»Mehr als den Süden?«
»Ja. Viel mehr.«
Er drehte sich um, sah sie an. Der erste Schatten eines Bartes lag auf seinem Gesicht. »Ich auch«, sagte er, »ich liebe den Norden auch mehr als den Süden.«
Sie wusste nicht, weshalb sie plötzlich Herzklopfen bekam. »Ich dachte immer, ich sei die Einzige mit dieser Vorliebe.«
»Nein. Bist du nicht.«
»Ich liebe auch den Herbst mehr als den Frühling.«
»Ich auch.«
»Ich liebe Weißwein mehr als Rotwein.« Er lachte.
»Ich auch.«
»Ich kämpfe mich lieber durch einen Wintersturm, als im Sommerwind spazieren zu gehen.«
Er trat einen Schritt näher an sie heran. »Was ist es, wonach du dich in Wahrheit sehnst?«, fragte er leise.
»In Wahrheit?«
»Du liebst nicht, was lieblich ist. Sanft, warm, umschmeichelnd. Du liebst, was rauh ist, kalt, herausfordernd. Du liebst alles, was dich spüren lässt, dass du lebst. Du sehnst dich so sehr nach dem Leben, Virginia. So sehr man sich nur sehnen kann, wenn man in einem alten Gemäuer sitzt, umgeben von hohen Bäumen, die Sonne und Wind und die ganze Welt draußen fern halten.«
Sie merkte zu ihrem Entsetzen, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Um Gottes willen, jetzt nicht heulen! Welche Saite hatte er angeschlagen mit seinen Worten ?
»Ich will …«, sagte sie und verstummte.
»Was? Was willst du, Virginia?«
Sie holte tief Luft. »Ich wollte eigentlich nur einen Kaffee haben«, sagte sie.
Er stellte seinen Becher auf den Tisch, trat noch einen Schritt näher. »Und was noch? Was wolltest du noch?«
Verwirrt blickte sie an ihm vorbei. Innerhalb der letzten zwei Minuten hatte sie sich auf etwas Neues eingelassen. Der Ton zwischen ihnen hatte sich verändert. Sie hatten nur über ihrer beider Vorlieben gesprochen, oder nicht? Irgendwie schienen sie ganz andere Informationen ausgetauscht zu haben. Noch begriff sie nicht ganz, was geschehen war und weshalb es geschehen war.
»Was wolltest du noch? Weshalb bist du mit mir nach Skye gefahren?«
»Ich weiß es
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