Das Echo der Schuld
zu gehen. Allerdings sollten Sie auch nicht zu viel daheim herumsitzen und grübeln. Sie brauchen professionellen Beistand.«
Er hatte ihr eine Liste mit Namen und Adressen von Therapeuten gegeben, die sich zum Teil auf die Betreuung von Verbrechensopfern und deren Angehörigen spezialisiert hatten, zum Teil auch auf die Arbeit mit Eltern, die ihre Kinder verloren hatten. Liz' Mutter hatte höhnisch gelacht, als Liz sagte, sie werde vielleicht in eine Therapie gehen.
»Zu den Quacksalbern willst du gehen? Die labern nichts als Scheiße, und hinterher wollen sie 'ne Menge Geld dafür haben! Echt, Liz, ich hätt' nicht gedacht, dass du so blöd bist!«
»Aber vielleicht kann man mir auch helfen, Mum. Ich träume immerzu von Sarah. Und ich kann«, ihr waren schon wieder die Tränen gekommen, »ich kann ständig nur denken, warum ich sie nicht auf das Karussell gelassen habe!«
Betsy Alby hatte theatralisch geseufzt. »Herrgott, hör doch endlich mit dem blöden Karussell auf! Glaubst du, sie wär' jetzt nicht tot, wenn sie drei Runden auf dem dämlichen Ding herumgejuckelt wäre?«
Ich weiß es nicht, hatte Liz antworten wollen, aber sie hatte nicht mehr sprechen können, weil die Tränen sich nicht länger hatten zurückhalten lassen. Sie musste immer weinen, wenn es um das Karussell ging. Darum, dass sie Sarahs letzten Wunsch nicht erfüllt hatte. Seltsamerweise warf sie sich das mehr vor als die Tatsache, zu dem Kiosk gelaufen und ihre Tochter so lange allein gelassen zu haben.
Sie fand keinen Trost bei ihrer Mutter, aber das hatte sie eigentlich auch nicht erwartet. Es war nicht so, dass die grausame Ermordung ihrer Enkelin spurlos an Betsy Alby vorübergegangen wäre. Aber die verbitterte Frau versuchte auf ihre Weise, damit fertigzuwerden: Sie trank noch mehr Alkohol, und der Fernseher lief nun fast rund um die Uhr. Manchmal wurde Liz um drei Uhr morgens wach und hörte, dass ihre Mutter immer noch oder schon wieder vor der Glotze saß. Das war früher nicht der Fall gewesen. Nachts zumindest hatte Betsy, leise schnarchend, tief und fest geschlafen.
Liz und ihre schreckliche Geschichte waren ausführlich durch die Presse gegangen, so dass sie eine gewisse Prominenz erlangt hatte und ohne Probleme bei zweien der Therapeuten auf ihrer Liste sofort einen Termin bekam. Die erste Praxis verließ sie jedoch geradezu fluchtartig, nachdem der Psychologe, ein sehr junger und idealistischer Mann, beharrlich auf ihrer, Liz', gestörten Vater-Beziehung herumritt, obwohl sich Liz an ihren Vater weder erinnern konnte noch den Eindruck hatte, ihre kurze Beziehung zu ihm sei es wert, analysiert zu werden. In der zweiten Praxis sollte sie sich auf ein Sofa setzen, den Therapeuten umklammern und so laut schreien, wie sie nur konnte. Sie hatte damit größte Schwierigkeiten, und der Therapeut schien das ziemlich bedenklich zu finden, aber Liz konnte nicht aus ihrer Haut heraus und hatte keine Lust, von nun an monatelang Woche für Woche den Urschrei zu üben und sich dabei an einem Mann festzuhalten, der säuerlich aus dem Mund roch und ständig unzufrieden mit ihr war.
Sie knüllte die Liste zusammen und warf sie in den Papierkorb.
Aber es trat ein, wovor der Arzt sie gewarnt hatte: Sie saß in der Wohnung und grübelte. Der Anblick ihrer Mutter reichte aus, um sie nachhaltig daran zu hindern, in ihrer Verzweiflung zum Alkohol zu greifen oder sich von der Dauerberieselung durch das Fernsehen verblöden zu lassen, aber es war auch nicht besser, den ganzen Tag aus dem Fenster zu starren und die Bilder aus Sarahs kurzem Leben an sich vorüberziehen zu lassen. Sarah als neugeborenes Baby, so warm und vertrauensvoll in den Arm ihrer ständig weinenden Mutter geschmiegt. Sarah, die ihre ersten wackeligen Schritte machte. Sarah, die ihre ersten Worte sprach. Sarah, die »Mummiiie!« brüllte, wenn sie auf dem Spielplatz beim Toben hinfiel. Und Mummie, die dann … ja, die eigentlich selten getröstet hatte. Die genervt gewesen war, geschimpft hatte. Die im Grunde jede Sekunde gehasst hatte, die ihr das Kind an Zeit für sich selbst gestohlen hatte. Und die dennoch nun begriff, dass es ein Band zwischen ihr und ihrer Tochter gegeben hatte, das stärker und inniger gewesen war, als sie geahnt hatte.
Sie fehlte ihr. Sarah fehlte ihr, in jedem Moment eines langen, langen Tages.
Könnte ich nur mit irgendjemandem sprechen, dachte Liz, einfach nur sprechen. Über das, was war, und über die vielen Fehler, die ich gemacht habe.
An
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