Das Ei und ich
Viehs an erster Stelle stehen und dementsprechend oft das Gesprächsthema bilden, ist es nicht weiter verwunderlich, wenn auch über Paarung, Geburt und Zucht des Menschen, trotzdem sie nicht von so einschneidender Wichtigkeit sind, offen geredet wird. Ich wurde krebsrot, als wir einmal bei Nachbarn zum Essen eingeladen waren und der Hausherr zwischen zwei Löffeln Suppe zu seiner Frau sagte: »Erzähl mal Betty von deiner Fehlgeburt, ausgerechnet als der Prediger bei uns zu Gast war, Vera.« Ich gewöhnte mich an Bemerkungen dieser Art, wie ich mich daran gewöhnte, ringsum im Land die unehelichen Söhne friedlich mit ihren ehelichen Halbbrüdern verkehren zu sehen. Zu Geburtstagsfeiern und Ausflügen trafen sich die Familienmitglieder in fröhlicher Geselligkeit; und keiner schämte sich seiner nicht salonfähigen Verwandten. Es hat keinen Zweck, über verschüttete Milch zu weinen, pflegt man in den Bergen zu sagen.
Schwangerschaft wurde im Volksmund als »so« sein bezeichnet. Und die Tatsache, daß ich »so« war, verbreitete sich mit den Neuigkeiten, daß in Hedwigs Herde eine von den Jerseykühen zu früh gekalbt hatte und der Jungstier impotent war. Eines Tages, als wir im Wagen zur Stadt fuhren, winkte uns unterwegs ein Mann zu. Wir hielten an, er sprang aufs Trittbrett, lehnte sich vertraulich zum Wagenfenster herein und sagte: »Hab gehört, Sie sind ›so‹.« »Stimmt«, entgegnete ich, denn zu der Zeit hatte ich mich bereits an den Ton auf dem Lande gewöhnt. Der Mann beugte sich noch weiter vor, daß sein Gesicht in unangenehme Nähe von meinem kam, und meinte: »Brauchen bloß ein Wort zu sagen, und ich bring Sie wieder in Ordnung. Kommen Sie mal abends mit sechs Dollar vorbei, und ich flick Sie zurecht, daß Sie wieder wie neu sind, ’ne Kleinigkeit, nicht der Rede wert«, wehrte er etwaige Befürchtungen Bobs ab. »Nahm Mrs. Smith in die Kur, als sie im sechsten Monat war, und ich hab bei meiner eigenen Frau dreimal dazwischengefunkt, als sie im dritten Monat war. Mit ’nem einfachen, altmodischen Stiefelknöpfer. Kein Grund zur Aufregung.«
»Ach, der!« machte die Assistentin des Arztes in der Stadt. »Seine Frau liegt gerade bei uns im Spital wegen ihrer letzten Fehlgeburt. Der liefert uns eine Menge Patienten.« Und sie lachte aus vollem Halse. Mir kam die Sache nicht so lustig vor. »Warum legt man dem Kerl nicht das Handwerk?« fragte ich empört. »Warum verhaftet man ihn nicht?«
Die Assistentin seufzte und sah interessiert zum Fenster hinaus. »Wozu verhaften? Wenn’s er nicht ist, ist’s ein anderer. Und ist’s kein anderer, so machen sie’s selbst. Das Spital liegt voll von solchen Fällen. Stiefelknöpfer, gebogene Drähte, Hutnadeln, lieber Himmel, mit den unmöglichsten Gegenständen probieren sie’s. Sie sind ja so schrecklich primitiv.« Nicht primitiv – zum Erbarmen unaufgeklärt.
In der letzten Novemberwoche stellte ich schon meinen Weihnachtsbaum auf, nur um die scheußliche Novemberatmosphäre im Haus zu vertreiben. Bob hob warnend den Zeigefinger und meinte, der Baum würde zu sehr austrocknen und die Nadeln noch vor dem Fest verlieren. Ich lachte ihn aus. Daß der Baum in unseren vier Wänden jemals trocken würde, hielt ich für ausgeschlossen, eher vermutete ich, ihn bei der Feuchtigkeit des Hauses Blüten treiben und kleine Christbaumableger erzeugen zu sehen.
Nie wurde ich müde, die hübschen kleinen Weihnachtsbäume ringsum zu bewundern. Als wir den Obstgarten von den Eindringlingen säuberten, gestattete Bob mir, zehn kleine Bäumchen für zukünftige Weihnachtsabende zu behalten. Wir versorgten natürlich die Familie mit Christbäumen, und für unseren eigenen Gebrauch suchte ich eine besonders gutgewachsene Tannendame aus, deren langer grüner Fransenrock den zierlichen Fuß verdeckte und deren Äste mit unzähligen Tannenzapfen verziert waren. Während des Sommers und des Herbstes versäumte ich nie, meinem kleinen Baum einen Besuch abzustatten, sooft ich im Garten arbeitete, und jedesmal überkam mich ein Gefühl des Schuldbewußtseins, wenn die kleinen Brüder und Schwestern meiner Auserwählten sich am Zaun drängten und wehmütig herüberwinkten. Land säubern bei uns war ungefähr das gleiche wie eine Volksmenge zurückhalten bei einer Feuersbrunst. Paßte man einen Augenblick nicht auf, oder gab der Zaun nach, so war kein Halten mehr, und die verfemten Bäume schlichen sich ein. Wir durften nie nachlassen, den Garten, die Felder, die Straße und
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