Das Ende der Geschichten (German Edition)
hatte ich nicht gerechnet. «Wieso das denn?»
«Na ja, ich habe eine Mail bekommen, dass mein Exposé in so einer Art Lektoratssitzung besprochen werden soll, und das ist anscheinend ein großartiger Erfolg, weil nur ein Prozent der eingereichten Exposés überhaupt so weit kommen. Das hat mich ungeheuer gefreut. Aber jetzt habe ich Angst, dass dieses Lektoratskomitee vielleicht denkt, ich hätte meine Idee nur vom echten Leben abgekupfert. Ich meine, kann ich überhaupt noch über so eine Bestie schreiben, wenn es jetzt tatsächlich eine gibt?»
«Natürlich», erwiderte ich. «Mach dir keine Sorgen. Erstens bin ich auch in der Lektoratssitzung. Und außerdem brauchst du keine Bedenken zu haben, weil jetzt eine echte Bestie unterwegs ist. Meines Wissens sind Bestien nicht urheberrechtlich geschützt. Es gibt ja auch schon den Hund der Baskervilles , aber das heißt noch lange nicht, dass jetzt kein Mensch mehr einen anderen Roman über ein übernatürliches Wesen auf dem Dartmoor schreiben darf. Eventuell musst du die Grundidee etwas abwandeln, um zu zeigen, dass du deine Vorgänger zur Kenntnis genommen hast, aber darüber hatten wir ja ohnehin schon gesprochen.»
«Dann mache ich mir also unnötig Sorgen.»
«Genau.» Ich lachte. «Aber ich verstehe dich gut. Ich habe mir um solche Sachen auch schon große Sorgen gemacht, das kannst du mir glauben. Einmal habe ich sogar festgestellt, dass eins meiner Bücher denselben Titel hat wie ein anderes, und gedacht, jetzt muss die ganze Auflage aus den Buchhandlungen entfernt werden oder so was. Aber dann hat sich herausgestellt, dass Titel hier in England auch nicht urheberrechtlich geschützt sind.»
«Komisch.»
«Ja, nicht?»
«Na, jedenfalls danke», sagte Tim. «Ich fühle mich schon viel besser.»
«Schön.»
«Und ich habe auch schon über ein paar andere fiktive und historisch belegte Bestien recherchiert», fügte er hinzu. «Ich nehme an, den Ansatz findest du richtig?»
«Unbedingt. Übertreib’s nur nicht. Denk dran, dein Zielpublikum sind Teenager mit einer kurzen Aufmerksamkeitsspanne.»
«In Robert Louis Stevensons Buch Eine Reise mit dem Esel durch die Cevennen kommt eine richtig tolle Bestie vor», berichtete Tim, und ich hörte ihn durchs Telefon Oscar-artig mit Papier rascheln und blättern. «Kennst du das?»
«Nein.»
«Es ist sehr lustig. Stevenson reist mit einer Eselin namens Modestine, die wirklich einen eigenen Charakter hat, durch die französischen Cevennen. Irgendwann kommen sie in eine Gegend, wo sich eine berühmte Bestie herumtreibt. Kann ich dir ein Stück aus dem Buch vorlesen?»
Vom Sofa her wimmerte Christopher. Anscheinend war ihm die Fernbedienung heruntergefallen, wobei mir nicht ganz klar war, warum er sie nicht einfach mit der gesunden Hand wieder aufhob. Ich drehte mich um, damit ich so tun konnte, als hätte ich die ganze Zeit aus dem Küchenfenster geschaut.
«Ja, mach das ruhig.»
«‹Leider fliehen Wölfe wie Banditen des Wanderers Pfad, und man mag durch unser gesamtes behäbiges Europa schweifen und auch nicht ein Abenteuer erleben, das der Rede wert wäre. Aber wenn überhaupt irgendwo, so war man hier an der Schwelle der Hoffnung. Denn dies war das Land der unvergesslichen ,Bestie', des Napoleon Bonaparte der Wölfe. Was für eine Karriere er machte! Vogelfrei trieb er sich zehn Monate lang in Gévaudan und im Vivarais herum. Er riss Frauen und Kinder und Schäferinnen ,von Liebreiz weit gerühmt'. Er verfolgte bewaffnete Reiter. Er war gesehen worden, wie er am hellen Mittag auf eine Postkutsche mit Vorreiter Jagd machte …› So geht es noch ein Weilchen weiter. Einige Zeit später verirrt sich Stevenson und begegnet zwei kleinen Mädchen, die sich weigern, ihm den Weg zu erklären. Eines streckt ihm die Zunge heraus, das andere sagt, er solle doch einfach den Kühen folgen. Worauf Stevenson schreibt: ‹Die Bestie von Gévaudan hat ungefähr hundert Kinder dieser Gegend gefressen; ich fing an, das Scheusal sympathisch zu finden.›»
Ich musste lachen. «Die Bestie vom Dartmoor hat meines Wissens bisher niemanden gefressen, obwohl mir schon der eine oder andere einfallen würde, mit dem sie anfangen könnte.»
«Na», meinte Tim, «wollen wir hoffen, dass nicht ich der Erste bin. Ich werde mich nämlich selbst auf die Suche nach ihr machen, um herauszufinden, was für ein Tier sie ist. Das hatte ich ja ohnehin vor und hätte es auch gemacht, wenn aus dem Roman nichts geworden wäre. Ich habe
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