Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft
Mittelpunkt. In den Fußstapfen von Keynes sah er die Schulden als Teil eines dynamischen Systems, das sich im Laufe der
Zeit zwangsläufig entwickelte. Wiederum über Keynes erkannte er, dass aus diesem Grund jede wirtschaftliche Kalkulation unsicher
wurde. In guten Zeiten werde diese Unsicherheit durch die Verheißung weiterer Zuwächse und Gewinne aufgewogen. In schlechten
Zeiten veranlasse sie die Finanzakteure jedoch, den Kredithahn zuzudrehen, Risiken zu vermindern und Kapital zu horten.
Diese Theorie war seiner Ansicht nach an sich nicht besonders revolutionär. Doch Minskys »Hypothese der Instabilität« 31 hatte eine weitere Dimension. Minsky teilte nämlich die Kreditnehmer in einer Volkswirtschaft in drei Kategorien ein und
unterschied zwischen abgesicherter, spekulativer und Schneeballfinanzierung. Im Falle der abgesicherten Finanzierung konnten
Kreditnehmer Zinsen und Tilgung aus dem Cash-Flow bestreiten. Im Falle der spekulativen Finanzierung konnten die Schuldner
mit ihrem Einkommen zwar die Zinsen bestreiten, nicht aber die Tilgung. Sie mussten |78| ihre Kredite immer wieder refinanzieren und neue Schulden aufnehmen, um alte zu begleichen. Die Schneeballfinanzierung ist
schließlich die unsicherste: Die Kreditnehmer konnten aus ihrem Einkommen weder die Zinsen noch die Tilgung finanzieren. Ihnen
blieb nur eine Wahl: Sie mussten – in der Hoffnung auf eine Wertsteigerung der mit geliehenem Geld erworbenen Anlagen – ihre
künftigen Einkommen verpfänden, um weitere Kredite aufnehmen zu können.
Nach Minskys Theorie nahm in Zeiten des Booms der Anteil der abgesicherten Finanzierung ab und der Anteil der spekulativen
und Schneeballfinanzierung dagegen zu. Das liege daran, so Minsky, dass gewöhnliche abgesicherte Finanzierer, die durch ihre
konservativen Investitionen Geld zur Verfügung haben, diesen Überschuss an spekulative und Schneeballfinanzierer weiterverliehen.
In der Spekulationsblase stieg der Preis einer begehrten Anlage – beispielsweise Immobilien –, was dazu führte, dass alle
drei Arten der Kreditnehmer mehr Geld aufnahmen. Während die nicht zurückgezahlten Schulden immer weiter anwachsen, steuert
das System immer mehr auf eine Katastrophe zu. Nach Minskys Ansicht spielt der eigentliche Auslöser kaum eine Rolle: Es könnte
sich um die Pleite eines Unternehmens handeln (wie beispielsweise der Bankrott von Hedge-Fonds und Großbanken in den Jahren
2007 und 2008) oder um die Aufdeckung eines gewaltigen Betrugsskandals (wie des Madoff-Skandals im Jahr 2008).
Minsky erkannte, dass in dem Moment, in dem Schuldenpyramiden einstürzen, ansonsten gesunden Geldinstituten, Unternehmen und
Verbrauchern plötzlich das Geld ausgeht und sie ihre Schulden nur bezahlen können, wenn sie ihre Anlagen zum Schnäppchenpreis
abstoßen. Während immer mehr Menschen ihre Anlagen verkaufen, verfällt deren Preis, und es entsteht ein Teufelskreis aus Notverkäufen,
sinkenden Preisen und neuen Notverkäufen. Während die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hinter das Angebot zurückfällt, leidet
die Wirtschaft unter Deflation: Jeden Tag kauft der Dollar mehr als am Vortag.
|79| Das klingt so, als handele es sich um eine gute Sache, doch es ist ein Fluch. Der Ökonom Irving Fisher, der sich mit der Weltwirtschaftskrise
beschäftigte, beschrieb diesen Prozess mit dem Begriff »Schuldendeflation« (siehe Kapitel 6). Wenn die Preise schneller fallen,
als die Schulden getilgt werden, so Fisher, dann steigt der reale Wert der privaten Schulden im Laufe der Zeit. Stellen Sie
sich vor, jemand nimmt einen Kredit von 1 Million Dollar auf, um ohne Eigenkapital ein Haus zu erwerben. Das Haus ist 1 Million
Dollar wert, und der Besitzer schuldet der Bank 1 Million Dollar. Mit dem Einsetzen der Deflation sinken die Preise in der
gesamten Wirtschaft, darunter auch der Preis des Hauses und das Einkommen des Besitzers. Alles wird billiger, aber alle haben
weniger Geld zur Verfügung. Leider bleibt die Hypothek dieselbe, nur dass der Kredit von 1 Million Dollar nun eine größere
Bürde ist als vorher.
Mit der Deflation nimmt also die Schuldenbelastung zu, und mit ihr die Wahrscheinlichkeit einer Zahlungsunfähigkeit oder Pleite.
Durch sprunghaft zunehmende Ausfälle und Bankrotte wird der Abwärtssog immer stärker und zieht die Wirtschaft schließlich
in eine Krise. Zwischen Oktober 1929 und März 1933 sank beispielsweise der Nominalwert der privaten Schulden
Weitere Kostenlose Bücher