Das Erbe der Azteken
wenig an der Oberfläche gekratzt zu haben. Jedes Symbol hat mehrere Bedeutungen. Und jeder Gott besitzt verschiedene Identitäten. Dabei ist es keine Hilfe, dass die meisten historischen Schilderungen der spanischen Sicht der Dinge entsprechen.«
»Es ist nun mal so, dass es am Ende immer die Sieger sind, die die Geschichte bestimmen und schreiben«, sagte Sam.
»Das ist leider wahr.«
Sam trank einen Schluck Wein. »Es scheint, als könnte man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass Rivera und wer immer es sein mag, für den er arbeitet, sich brennend für Blaylock interessieren – sogar bei einem zeitlichen Abstand von einhundertvierzig Jahren. Aber frag mich nicht, wie und warum. Der aztekische Aspekt kann jedenfalls kein Zufall sein. Oder sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht?«
»Ich glaube nicht, Sam. Es gibt einen gemeinsamen Punkt, der Blaylock, das Schiff, die Glocke und Rivera miteinander verbindet. Die Frage ist nur, wie passen die beiden mittleren dazu?«
Der Kellner brachte ihren Salat.
Sam sagte: »Wir wissen noch immer nicht, was Riveras Interesse für die Shenandoah geweckt hat. Verdammt, wir wissen noch nicht einmal, ob es überhaupt die Shenandoah ist. Abgesehen von Ophelia, was Blaylock sich ausgedacht hat, hat das Schiff noch die zwei anderen Namen: Sea King und El Majidi. Wir schlagen uns also nicht nur mit dem Was herum, sondern auch mit dem Wann.«
»Was ist, wenn sie auf etwas stoßen, das mit Blaylock zu tun hat – ein anderes Tagebuch oder einige Briefe zum Beispiel? Schlimmer noch, was wäre, wenn Selma richtig liegt und Blaylocks Malaria-Erkrankung ihn um den Verstand gebracht hat und die Zeichnungen in seinem Tagebuch ausschließlich seiner Fantasie entsprungen sind?«
»Mit anderen Worten«, sagte Sam, »wir alle könnten einem Phantom hinterherjagen.«
Nach dem Essen teilten sie sich ein Stück Erdbeer-Rhabarber-Kuchen und krönten das Ganze mit zwei Tassen koffeinfreien äthiopischen Kaffees. Um kurz vor einundzwanzig Uhr waren sie wieder in ihrem Hotelzimmer. Die Rufanzeige ihres Telefons blinkte.
»Ich wusste doch, dass ich was vergessen hatte. Ich habe Julianne unsere Mobilfunknummern nicht gegeben«, sagte Remi.
Sam wählte die Nummer des hoteleigenen VoiceMail-Systems und schaltete den Lautsprecher ein. »Sam, Remi, hier ist Julianne. Es ist etwa halb neun. Ich gehe jetzt nach Hause, aber ich bin morgen früh um sechs Uhr wieder in der Bibliothek. Kommen Sie doch um acht vorbei. Ich glaube, ich habe etwas gefunden.«
24
Library of Congress
Sie trafen um Viertel vor acht ein und wurden bereits von einem Wachmann erwartet, der ihre Leserausweise überprüfte und sie in die Abteilung für Spezialsammlungen im zweiten Stock geleitete. Als sie eintraten, trafen sie Julianne Severson an ihrem Arbeitsplatz vor dem Computer an. Ihr Kopf lag auf der Tischplatte. Sie trug dieselben Kleider wie am Tag vorher.
Als die Tür mit einem Klicken ins Schloss fiel, schreckte die Bibliothekarin hoch und sah sich irritiert um. Sie entdeckte ihre Besucher, blinzelte mehrmals heftig, dann lächelte sie. »Guten Morgen.«
Remi sagte: »Oh, Julianne, jetzt erzählen Sie uns bloß nicht, dass Sie gar nicht nach Hause gegangen sind.«
»Fast hätte ich es ja geschafft. Ich wollte es auch, wirklich, aber dann bin ich noch auf einen kleinen Hinweis gestoßen, der zu einem anderen führte, und danach folgte der nächste und so weiter … Sie wissen ja, wie so was geht.«
»Das wissen wir«, erwiderte Sam. »Wenn es hilft, wir haben einen Venti Starbucks Dark Roast, Bagels und Frischkäse mitgebracht.«
Er hielt den Karton hoch. Julianne Seversons Augen strahlten.
Nachdem sie ihren Venti-Kaffeebecher zur Hälfte geleert und fast einen ganzen Bagel verzehrt hatte, tupfte sich Severson die Lippen ab, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und kam zu Sam und Remi an den Arbeitstisch. »Jetzt geht es mir besser«, sagte sie. »Danke.« Neben ihr lagen ein Schnellhefter, prall gefüllt mit Ausdrucken, und ein vollgeschriebener Notizblock.
»Bevor wir hier Schluss machen, drucke ich Ihnen natürlich sämtliches Referenzmaterial aus, das ich gefunden habe, daher jetzt nur kurz die wichtigsten Punkte.
Die gute Nachricht ist, dass alles, was ich gefunden habe, schon seit langem nicht mehr als geheim eingestuft wird und frei zugänglich ist. Ich habe die Nacht damit verbracht, Querverbindungen herzustellen, und mich aus privaten Archiven, Universitätssammlungen, Dokumenten des
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