Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
geduckt beobachtete sie, wie die drei Wilddiebe die Hirschkuh losschnitten und auf den Boden fallen ließen, um ihr blutiges Handwerk zu beginnen. Mit geübten Bewegungen schnitten sie dem Tier den Bauch auf und griffen beherzt in die so entstandene Öffnung, um die Eingeweide zu entfernen. Angeekelt wandte Brigitta sich ab, als die Männer das Gekröse scherzend in den Fluss warfen und damit anfingen, dem erlegten Tier das Fell abzuziehen.
Ein prüfender Blick zum Himmel verriet ihr, wohin sie sich wenden musste, und nachdem sie sich ein letztes Mal versichert hatte, dass die drei Kerle beschäftigt waren, stahl sie sich auf allen vieren am Rand der Lichtung entlang. Quälend langsam schwand der Abstand zu der südlich von ihr gelegenen Flussbiegung, an der sich die Lone so weit verbreiterte, dass ein kleiner Teich entstand. Dort würde sie sich im Schutze des Uferschilfes halten, um so schnell wie möglich wieder in den – plötzlich gar nicht mehr so feindselig wirkenden Wald – einzutauchen. Sie hörte bereits das träge Quaken der Laubfrösche, als ihr Fuß sich in etwas Weichem verfing.
Bevor sie begriffen hatte, was geschehen war, schlug sie hart der Länge nach hin, und wenngleich sie die Zähne aufeinanderbiss, entwich die Luft ihrer Lungen mit einem deutlich vernehmbaren Geräusch. Woraufhin sich die Dinge überschlugen. Aufgeschreckt von der unerwarteten Störung, erhoben sich ein paar Enten in die Lüfte – was die Wilderer dazu veranlasste, von ihrer Arbeit aufzublicken. Als einer von ihnen mit einem erstaunten Ruf den Arm ausstreckte, um auf die junge Frau zu zeigen, rappelte diese sich in Windeseile auf und schlug alle Vorsicht in den Wind. Sie hatten sie entdeckt! Warum sollte sie dann noch Versteck spielen? Der Schreck wollte sie für den Bruchteil eines Augenblicks lähmen, als der größte der Männer die Armbrust von der Schulter riss, die Waffe spannte und einen Bolzen einlegte. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie hilflos dabei zu, wie der Kerl auf sie anlegte, doch kurz bevor er den Schuss abfeuerte, errang sie die Kontrolle über ihren Körper zurück und hechtete ins Gras. Das tödliche Geschoss zischte kaum eine Handbreit an ihrem linken Ohr vorbei und landete mit einem Platschen in dem kleinen Teich, doch bevor der Räubergeselle die Waffe ein zweites Mal schussbereit machen konnte, stob Brigitta wie vom Leibhaftigen gehetzt auf den Waldsaum aus Kiefern und Tannen zu.
Ohne sich darum zu kümmern, was in ihrem Rücken geschah, lief sie, bis Sterne vor ihren Augen tanzten; und als sie es endlich wagte, anzuhalten und um Atem zu ringen, stellte sie erstaunt fest, dass sie bei ihrer blinden Flucht instinktiv dem Verlauf des Flüsschens gefolgt war. Angespannt wie eine Bogensehne kroch sie zwischen eine Gruppe Haselsträucher und wartete ab, ob die Kerle ihr auf den Fersen waren. Bebend kaute sie an ihren Fingernägeln, während ihre Augen wie die eines gehetzten Kaninchens hin und her zuckten. Als das Kribbeln in ihren Kniekehlen sich schließlich bis in die Zehenspitzen ausgebreitet hatte, wagte sie sich wieder aus ihrem Unterschlupf hervor, und bevor sie es sich anders überlegen konnte, stolperte sie weiter nach Süden. Die Sonne hatte schon lange den höchsten Punkt am Himmel überschritten, als sie endlich das Ende des Waldes erreichte. Mit einem Dankgebet auf den Lippen umklammerte sie das Kruzifix an ihrem Hals und taumelte erschöpft auf ein abgeerntetes Feld, an dessen entferntem Ende sich ein Schuppen erhob. Sie hatte es geschafft! Nicht mehr lange und sie war in Ulm, wo sie endlich erfahren würde, was der buckelnde Kater zu bedeuten hatte!
Kapitel 51
Burg Katzenstein, 9. August 1368
Genüsslich sog Adelheid von Oettingen den würzigen Duft des lauen Sommerabends ein. Das schwere Aroma der Heckenrosen vermischte sich mit dem Geruch der Fuchsien, Hortensien und Wicken, die sie an diesem Tag eigenhändig gegossen hatte. Leise vor sich hin summend zwickte sie mit einer kleinen Schere vertrocknete Blätter ab und labte sich am Anblick der wilden Blütenpracht. Wie schön diese kleinen Gärten doch waren, dachte sie verwundert, da sie die Burg ihres Gemahls in letzter Zeit mit völlig neuen Augen sah.
Seit dem Aufbruch seines Sohnes am gestrigen Morgen hatte Wulf eine beinahe unheimliche Verwandlung durchgemacht, doch das Ergebnis dieser Metamorphose gefiel Adelheid so sehr, dass es ihr schwerfiel, nicht vor Fröhlichkeit und Zuversicht aus der Rolle der Burgherrin zu fallen.
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