Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
als ich noch ein kleines Mädchen war. Er lächelt mich an, als ob er nun schüchtern wäre. »Ich danke Euch, Euer Gnaden. Ich werde Euch treu dienen, mit Herz und Seele.«
Ich reiche ihm die Hand zum Kuss, und als er näher tritt, rieche ich wieder den Geruch seiner Haut, jenen anziehenden Geruch, der mir einst so vertraut war. Es ist der Duft meines ersten Liebhabers, der mir einmal alles bedeutete. Ich legte sogar sein Hemd unter mein Kopfkissen, damit ich mein Gesicht hineinsenken und von ihm träumen konnte. Damals vergötterte ich Francis Dereham - aber ich wünschte, ich hätte ihn nicht wiedersehen müssen.
Er beugt sich über meine Hand, und seine Lippen auf meinen Fingerspitzen sind so weich und nachgiebig wie früher. Ich lehne mich ein wenig vor. »In meinem Dienst werdet Ihr sehr diskret sein müssen«, mahne ich. »Ich bin jetzt die Königin, und Ihr dürft nicht über mich reden, weder über die Gegenwart noch über die Vergangenheit.«
»Ich bin der Eure mit Herz und Seele«, erwidert er, und ich verspüre das unwiderstehliche Aufflackern des Begehrens. Er liebt mich immer noch, er muss mich immer noch lieben - warum sonst sollte er gekommen sein, um in meine Dienste zu treten? Und obwohl ich nichts mehr von ihm wissen wollte, erinnere ich mich noch zu gut seiner Berührung und seiner atemberaubenden Küsse sowie der Berührung seines nackten Schenkels zwischen meinen Schenkeln und dem Drängen seiner Lust, die nie auf Widerstand stieß.
»Gebt acht auf Eure Worte«, mahne ich, und er lächelt, als ob er ganz genau wüsste, woran ich gerade denke.
»Gebt acht auf Eure Erinnerungen«, lautet seine Erwiderung.
J ANE B OLEYN , P ONTEFRACT C ASTLE , A UGUST 1541
Die beiden jungen Männer und ein halbes Dutzend andere - alle gleichermaßen überzeugt davon, ihr bevorzugter Günstling zu sein - umringen die Königin jeden Tag. In ihrem Hofstaat herrscht eine Spannung wie in einem Bordell, kurz bevor eine Prügelei ausbricht. Die Königin, berauscht von den Aufmerksamkeiten, die sie auf Schritt und Tritt erhält, auf jedem Jagdritt, bei jedem Frühstück und bei jedem Maskenspiel, ähnelt einem Kind, das zu lange aufbleiben durfte: Sie fiebert vor Erregung. Einerseits ist da Thomas Culpepper, der ihre Hand hält, wenn er ihr vom Pferd hilft, der mit ihr tanzt, der ihr beim Kartenspielen ins Ohr flüstert, der sie als Erster am Morgen begrüßt und abends als Letzter ihre Gemächer verlässt; andererseits ist da der junge Dereham, der stets mit seinem kleinen Schreibtisch bereitsteht - als ob sie jemals Briefe diktieren würde!-, der ihr ständig etwas zuflüstert, sich vordrängt, um Ratschläge zu geben, ständig dort ist, wo er nichts zu suchen hat. Und wie viele andere mögen es noch sein? Ein Dutzend? Zwanzig? Selbst die kapriziöse Anne Boleyn war nie von so vielen Verehrern umgeben, die wie Hunde vor der Tür des Fleischers betteln. Aber Anne wirkte trotz aller Leichtlebigkeit niemals wie ein Mädchen, das seine Gunst für ein Lächeln verschenken würde, das von einem Lied, einem Gedicht oder einem geschickt platzierten Wort verführt werden könnte. Wir beginnen allmählich zu erkennen, dass die Fröhlichkeit der Königin, die den König anfänglich so glücklich machte, nicht aus kindlicher Unschuld entspringt, sondern ein kokettes, nach Aufmerksamkeit gierendes, dummes Ding kennzeichnet, das unaufhörlich männliche Bewunderung braucht.
Natürlich gibt es Streit, natürlich kommt es fast zu Handgreiflichkeiten. Einer der älteren Höflinge mahnt Dereham, er solle sich allmählich vom Tische erheben und die Runde verlassen, denn er gehöre nicht zum Rat der Königin und müsse sich nach dem Essen entfernen. Und Dereham mit seinem losen Mundwerk gibt zurück, dass die Königin schon lange, bevor wir sie überhaupt kannten, bei ihm Rat gesucht habe und dass er auch dann noch ihr Vertrauter sein werde, wenn sie uns Übrige längst entlassen habe. Und natürlich kommt es zu einem Handgemenge. Das Schlimme ist, dass der König davon erfahren könnte, und deshalb wird Dereham in die Gemächer der Königin zitiert, und sie muss ihn in meiner Gegenwart zurechtweisen.
»Ich kann nicht zulassen, dass Ihr in meinem Haushalt Streit verursacht«, sagt sie hölzern.
Er verneigt sich, doch seine Augen blitzen voller Selbstvertrauen. »Ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen. Ich bin der Eure, von ganzem Herzen und ganzer Seele.«
»Ist ja gut und schön, so etwas zu sagen«, meint sie
Weitere Kostenlose Bücher