Das Erbe Der Nibelungen
werden.
Burgund war ein Ort, den sie immer gehasst hatte, das Land, die Hauptstadt Worms, seine Menschen. Die Steine der alten Burg waren verflucht, jedes Blatt an jedem Baum. Und doch - was nun war, was nicht sein durfte, war grausam und gnadenlos. Worms als geknechteter Alptraum und eine Burg darüber wie der zornige Blick der Götter.
Die Götter. Wie hatten sie das zulassen können? Oder
hatten sie es nur nicht verhindert? Die Seherin konnte ihre Anwesenheit spüren, stärker als früher. In dieser Welt, in dieser Zeit waren sie noch nicht vom neuen Glauben verdrängt. Doch sie hörte nicht ihre Stimmen. Odin und sein Gefolge saßen mit dem Rücken zu dieser Wirklichkeit, weigerten sich, ihr ins hässliche Gesicht zu sehen.
Die Seherin umrundete langsam den Thron, folgte der schweren Kette und fand im Schatten dahinter das Tier, das in diesem zeitlosen Moment regungslos am Boden lag, als schliefe es. Trotz aller Jahre, aller Wut fand die Seherin eine Träne, und ihre erstarkte Hand strich dem Tier über die Klauen. Mittlerweile hatte sie den Plan der Nibelungen verstanden - doch erst in diesem Augenblick erfuhr sie seine grausame Konsequenz. Es fiel ihr schwer, sich von der Kreatur loszureißen, die zwischen Fleischfetzen und dem eigenen Schmutz auf nacktem Stein lag. Doch sie tat es in der Hoffnung, all dies noch einmal ungeschehen machen zu können.
Als Nächstes trat sie in die dünne Luft auf den Balkon und blickte mit toten Augen auf die Stadt hinab, deren Menschen von hier oben nur kleine, aneinander vorbeieilende Punkte waren. Selbst wenn die Sterblichen dieser Welt in der Lage gewesen wären, sie zu sehen - niemand hatte mehr die Kraft, das geschundene Haupt in den Nacken zu legen und nach oben zu schauen.
Behutsam strich die Seherin mit ihren Fingerkuppen über den rauen, zerkratzten Stein der niedrigen Mauer, die den Balkon einfasste. Ein schwarzer Schauer durchlief sie, eine schmerzhafte Welle der Macht, die in Burgund und auf dem ganzen Kontinent herrschte. Es war mehr als die Nibelungen, es war weit mehr als König Hurgan.
Sie spürte den Drachen.
Es hatte mehrere Stunden gedauert, bis die kleine Gruppe das Sonnental erreicht hatte. Calder hatte ihnen erklärt, dass es seinen Namen von der perfekten Lage der schmalen Schneise zwischen zwei Bergen hatte, die von morgens bis abends im Licht der Sonne badete. Hier war Ackerbau einfach und Viehzucht ebenso.
»Als was bezeichnet ihr euch?«, fragte Sigfinn irgendwann, während das Schwert auf seinem Rücken schwer zwischen die Schulterblätter drückte. »Rebellen? Flüchtlinge? Söldner?«
Calder lächelte sanft, ohne ihn anzusehen. »Um Rebellen zu sein, müssten wir zur Rebellion in der Lage sein. Doch die vierzig, fünfzig Bewohner unseres Ortes werden es kaum mit Hurgan aufnehmen können. Solange das Reich uns den kleinen Frieden lässt, wollen wir es nehmen, wie es ist.«
»Es hinnehmen, wie es ist?«, fragte Brynja empört. »Die Unterdrückung, den Tod, den Hunger? Warum geht ihr nicht zu den Menschen, führt sie an, stachelt sie auf? Kein Despot kann gegen sein Volk regieren!«
Calder sah sie mit einer gönnerhaften Überheblichkeit an, die sie ärgerte. »Die Menschen sind lange schon gebrochen. Tod und Hunger sind die Folge etlicher Versuche, Widerstand zu leisten. Dein Fordern, Hurgan zu bezwingen, hat in den letzten hundert Jahren mehr Menschen das Leben gekostet, als heute noch im Reich verblieben sind. Die besten Generäle, die stärksten Heere - sie wurden in den Staub getreten und zermalmt. Es ist nicht schön, aber es ist wahr.«
Danain ging derweil neben Sigfinn. »Du bist ein junger Kerl und gesund, wie es scheint. Wieso hat Hurgan aus dir keinen Horden-Krieger gemacht, wie es Gesetz ist?«
Sigfinn verstand nicht, was der Rebell meinte, wollte die Wahrheit aber auch nicht zu sehr preisgeben. »Ich … wir … kommen nicht von hier. Unsere Heimat liegt sehr weit entfernt.«
Misstrauisch hob Danain eine Augenbraue. »Seit zwei Generationen sind alle Grenzen des Reiches geschlossen und schwer bewacht. Wie ist es euch gelungen, die großen Mauern zu überwinden?«
»Übers Meer«, murmelte Sigfinn und hoffte, die Fragerei würde bald ein Ende haben.
»Aber warum? «, hakte Danain stattdessen nach. »Welcher Mann bei klarem Verstand reist ins Reich des Todes, noch dazu mit seiner Frau an der Seite?«
»Sie ist nicht …«, beeilte sich Sigfinn zu sagen, »Brynja ist nicht meine … Frau.«
»So bringt der Tag nicht nur
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