Das Erbe Der Nibelungen
wenn sie wenig abwechslungsreich war: Menschen geknechtet, der König ungerecht und kaum ein Stein mehr auf dem anderen.
Sigfinn ging auf, dass Otker mehr über die Geschichte des Reiches wusste als jeder andere, den er bisher getroffen hatte. So nahm er ihn zwischen zwei Liedern beiseite und stellte sich vor als jemand, dessen Familie vor Generationen ausgewandert war, weit nach Persien hinein, und der nun einer Chronik der verpassten Ereignisse bedurfte.
Otker, ein zum Erbarmen dürrer Vogel mit flinken Fingern an der Leier, ließ sich nicht zweimal bitten. »Wie weit soll ich in die Geschichte greifen, mein Herr? Zu den Römern? Den Griechen?«
»Worms«, sagte Sigfinn und bemerkte, wie Otkers Miene sich verdüsterte. »Der Alptraum dieses dunklen Reiches ist mir unerklärlich. Das war nicht immer so.«
»Nicht immer«, stimmte der Barde zu. »Doch zu lange schon. Es gab die Zeit vor Drachenstein …«
»Drachenstein?«
»Die Burg, die wie eine Spinne mit ledernen Beinen über der Stadt thront«, erklärte Otker. »Hurgans Palast.«
»Noch früher«, bat Sigfinn. »Vor Drachenstein. Zu Zeiten König Gundomars.«
Der Barde lachte, doch es klang bitter. »Gundomar? Ein Tölpel, wie er ein Feigling war. Versteckte sich vor Fafnir, bot die eigene Tochter Kriemhild jedem, der ihn vor dem Untier retten möge. Er hätte das Kind an die Römer verschachert, wenn sie ihm geholfen hätten. Als er das Schwert endlich zur Hand nahm, briet ihn der Drache wie
wir heute das Schwein. Ihm folgte sein Sohn Gunther auf den Thron.«
Sigfinn zitterte. Das war sie! Das war die Geschichte, die er kannte! Die Geschichte seiner Welt, seiner Zeit! Vertraute Figuren, vertraute Ereignisse wärmten seine Seele. »Und was geschah dann?«
Otker winkte ab. »Gunther war nicht besser als der Vater. Zögerlich und kaum bereit, dem Untier die Stirn zu bieten. Er schickte einen Schmied, es zu versuchen. Einen Schmied, man stelle sich vor!«
Der Prinz nickte aufgeregt. »Siegfried, der Bezwinger. Der Drachentöter.«
Der Barde hob die Augenbrauen. »Sein Name ist im Nebel der Geschichte längst verschollen, doch wenn du es sagst, dann mag es ein Siegfried gewesen sein. Doch ein Bezwinger war er nicht und ein Drachentöter schon gar nicht.«
»Natürlich!«, protestierte Sigfinn. Es war schließlich die mit großem Stolz oft erzählte Geschichte seines Ahnen. Das Drachenamulett brannte wie zur Empörung auf seiner Brust. »Mit dem Schwert Nothung zog er in den Wald, und mit dem Schädel Fafnirs kehrte er zurück.«
»Wenn es so gewesen wäre«, sagte Otker fast mitleidig, »dann hätten wir heute sicher fröhlichere Lieder zu singen, mein junger Freund.«
»Was meinst du?«
»Siegfried unterlag dem Drachen - und mit ihm Worms, dann Burgund, schließlich der Rest des Kontinents.«
6
Das Jahrhundert des Drachen
Brynja war auf der Suche nach Sigfinn. Ihr Herz war unruhig und von Audes Worten verwirrt. Wie konnte der Mann, der ihr bestimmt war, sie kaum kennen? Keiner kannte sie besser als der Prinz von Island. Dazu rauschte das Bier durch ihren Körper, verdrehte ihr die Sinne, ließ sie unstet stolpern. Als sie endlich meinte, Sigfinn entdeckt zu haben, im Gespräch mit einem alten Gaukler oder Musikus, packte eine Hand sie freundlich, aber bestimmt.
»Ein Tanz, schöne Frau?«, sagte Calder, und er wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern zog sie zu den anderen, die in der Nähe des großen Lagerfeuers sich zur Musik bewegten.
Der Anführer der Rebellen war stark, und mit beruhigender Selbstverständlichkeit nahm er sie in die Arme. Obwohl ihre Beine schwach waren, fühlte Brynja sich von ihm gut gehalten. Sie drehten sich zur Musik, neigten ihre Körper hin und her, vor und zurück.
Zum ersten Mal, seit sie Island verlassen hatte, spürte Brynja so etwas wie Freude und ehrliche Gelassenheit. Sie
ließ sich in den Tanz fallen, schloss die Augen und folgte ganz den sicheren Schritten Calders.
Fast unmerklich wurde die Musik langsamer, behutsamer, weicher. Und Calder presste sich näher an sie. Er roch … anders als Sigfinn. Würziger. Nicht unangenehm, eher herausfordernd.
Brynja spürte, wie sein Atem mit seinen Lippen näher kam. Sie öffnete die Augen, unentschlossen, wie sie reagieren sollte. Ein Kuss vielleicht? Ein einfacher, sanfter, von niemandem verbotener Kuss auf einem Fest der Freundschaft? Was sprach dagegen? Wer sprach dagegen?
Was sie bekam, war mehr als ein Kuss - Calder zog sie endgültig an sich, presste
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