Das Erbe der Pilgerin
am kommenden Tag kämpfen. Was war, wenn man ihn so zurückbrächte wie Flambert? Sophia wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn vor der Schlacht wenigstens noch einmal zu sehen. Aber vor allen anderen Rittern und Mädchen konnte sie ihn nicht verabschieden. Ihre Liebe gehörte ihr, nur ihr allein, sie wollte nicht, dass die anderen Mädchen darüber kicherten und die Männer zotige Bemerkungen machten. Sophia hoffte nur, dass es Dietmar genau so ging.
Sie versuchte, ihn mit der Kraft ihrer Gedanken zu rufen – und war nicht überrascht, als er keine Stunde später als sie auf die Treppe trat. Und wieder wirkte der Zauber. Die beiden brauchten keine Worte. Dietmar ging auf Sophia zu und küsste sie, und sie erwiderte den Kuss mit ruhiger Selbstverständlichkeit. Sein Kuss nahm ihr die Angst. Wenn sie sich an ihn schmiegte, ging es ihr gut. Und in dieser Nacht roch er nicht nach Blut und getrocknetem Schweiß. Er hatte die Bäder besucht. Sophia meinte, den besonderen Duft seines Körpers wiederzuerkennen, und Dietmar vergrub sein Gesicht in ihrem weichen, glatten Haar.
»Ich wünschte, du könntest mir ganz gehören«, flüsterte er. »Wen werde ich fragen müssen? Den Grafen?«
Sophia seufzte. »Du brauchst niemanden zu fragen, ich gehöre dir schon. Ich gehöre dir seit Anbeginn der Zeit … Ich meine … wenn Geneviève meint, dass sich in einem Tier die Seele eines Engels manifestieren kann … Vielleicht warst du ja mal Adam und ich war Eva?«
Dietmar lachte. »Aber wir lassen uns nicht aus dem Paradies vertreiben!«, erklärte er. »Wir zerstören morgen dieses Katapult von Montfort und halten die Stadt.«
»Ist sie das Paradies?«, fragte Sophia zweifelnd.
»Das Paradies ist der Boden, auf dem du stehst«, sagte Dietmar zärtlich. »Und ich werde ihn mit meinem Leben verteidigen.«
Sophia schüttelte heftig den Kopf. »Bitte nicht mit deinem Leben, Liebster. Bitte nicht mit deinem Leben!«
Am nächsten Tag stand eine strahlende Sonne am Himmel – ein Wetter, das für einen Ausritt wie gemacht schien oder eine Falkenjagd. Oder eine Brautfahrt? Sophia verlor sich kurz in einem Tagtraum, als sie aus dem Fenster zu den fernen Bergen hinübersah. Sie dachte sich statt des Schlachtfelds vor der Stadt eine grasbewachsene, von Feldern durchzogene Ebene. Ihr Pferd tänzelte zwischen den Wiesen und Äckern hindurch, Dietmar an ihrer Seite trug keine Rüstung, sondern eine bunte Tunika, und er musste nicht wachsam sein, sondern konnte ihr zulächeln. Sie meinte, sein blondes Haar im warmen Wind fliegen zu sehen, der auch ihren Schleier aufbauschte. Als sie die Hand zu ihm hinüberstreckte, nahm er sie, und sie hielten auf die Wälder und dann auf die Berge zu, und Sophia freute sich auf die schattigen Waldpfade ebenso wie auf die rauen Gebirgspässe. Sie würde sich bei Nacht an Dietmar schmiegen und Liebesschwüre tauschen. Und in ein paar Wochen wären sie in Lauenstein …
Sophia schreckte aus ihren Gedanken auf. Dies war kein Tag zum Träumen. Sie wurde anderswo gebraucht und sollte nicht müßig am Fenster stehen. Entschlossen wandte sie sich Geneviève zu.
»Du kommst jetzt mit!«, sagte sie hart. »Schlimm genug, dass du nicht mit den anderen Mädchen hinausgegangen bist, um die Ritter auszusenden. Rüdiger hat dich sicher schmerzlich vermisst!«
Sophia selbst war auch nicht im Burghof gewesen, aber das hatte Dietmar gewusst. Die jungen Liebenden hatten sich schon in der Nacht zuvor verabschiedet. Und Sophia hatte Pläne geschmiedet, ihren Liebsten nicht aus den Augen zu verlieren.
Ich werde auf jeden Fall bei dir sein! Ich werde der Schlacht zusehen, hatte sie Dietmar versprochen, und den Schwur wollte sie halten. Energisch schüttelte sie Geneviève, die wieder nur grübelnd vor ihrem Betpult hockte. Dabei betete sie gar nicht mehr, zumindest las sie nicht mehr ständig im Johannesevangelium und verschonte Sophia mit den ewigen Wiederholungen des Vaterunsers. Genevièves Schweigen verunsicherte sie jedoch zusehends.
»Ich gehe zur Mauer um Montoulieu und steige auf den Wehrturm. Und du kommst mit! Los, zieh dich an, die Ritter sind bereits unterwegs.«
Geneviève schien wie aus einem Traum zu erwachen. »Da lassen sie uns gar nicht rauf«, wandte sie ein, aber Sophia winkte ab. »Die Herrin Ayesha will auch dorthin. Und ihr Gatte ist bereits dort. Er wird nicht mit den Rittern kämpfen, er will es noch mal mit diesen kleinen Kampfmaschinen versuchen. Die Herrin wird uns mitnehmen, aber ganz
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