Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
dem die Krieger schliefen. Ein schmaler Lichtschein fiel auf den staubigen Platz vor der Unterkunft, und die grölenden Stimmen in ihrem Innern gewannen für kurze Zeit an Stärke. Ein Krieger trat heraus.
Faizah hielt den Atem an und horchte.
Schleppende Schritte näherten sich dem hölzernen Tor des Gefangenenlagers.
Er kam.
Mit klopfendem Herzen tastete sie ein letztes Mal nach dem Messer, das ihre Mutter vor wenigen Silbermonden heimlich in den Saum ihres ärmlichen Gewandes eingenäht hatte. Die Krieger hatten es nicht gefunden, als sie sie durchsucht hatten. Es war zwar klein, doch Faizah hütete es wie einen Schatz. Sie wusste, dass kein Kurvasa eine Waffe besitzen durfte. Darauf stand der Tod – ein schrecklicher Tod auf den Blutaltären des Whyono.
Aber Faizah hatte nichts zu verlieren. Ihre ganze Hoffnung ruhte auf dem Messer, das sie am Nachmittag aus seinem Gefängnis aus Stoff befreit hatte. Die abgenutzte Klinge war nicht viel länger als ihr Zeigefinger und der hölzerne Griff rissig, doch immerhin hatte sie eine Waffe.
Am Tor wurde nun laut gesprochen. Eine dunkle, schwankende Stimme befahl dem Wächter zu öffnen. Der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass der Sprechende reichlich dem Ecolu zugesprochen hatte, einem scharfen Gebräu aus wildem Emmer. Faizah schlug das Herz bis zum Hals. Die Krieger des Whyono waren grausam und gnadenlos, doch ein betrunkener Krieger zudem noch unberechenbar. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht doch das Vorhaben aufgeben und sich irgendwo verstecken sollte, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Sie hatte keine Wahl. Hier erwartete sie nichts als der Tod – entweder in dieser Nacht durch die Hand des Kriegers oder in den kommenden Tagen durch die Glut des Wehlfangs. Um dem vorgezeichneten Schicksal zu entrinnen, hatte sie nur eine Möglichkeit: Sie musste zu Ende bringen, was sie am Nachmittag begonnen hatte.
Mit weichen Knien trat sie aus dem Schatten und ging auf den Krieger zu, der das Gefangenenlager soeben betreten hatte. »Ich habe dich schon erwartet.«
»Sehr gut.« Die Worte kamen dem Krieger so träge über die Lippen, als wäre seine Zunge zu schwer zum Sprechen. Er packte Faizah an der Schulter, zog sie grob zu sich heran und fasste ihr mit der Hand auf schamlose Weise zwischen die Beine. Sie spürte die schwieligen Finger tastend auf ihrer Haut und wand sich unter dem Griff, doch der Krieger hielt sie eisern fest. »Zier dich nicht«, keuchte er. »Du wolltest es doch.« Sein nach Ecolu stinkender Atem ging schneller, und Faizah wandte angewidert den Kopf ab. »Nicht hier«, presste sie hervor und betete im Stillen darum, dass er sich darauf einließe. Keiner der Krieger, die hier ihren Dienst verrichteten, besaß auch nur annähernd ein Gefühl für die Scham der Gefangenen. Faizah fürchtete, dass er sie auf der Stelle nehmen würde, und flehte heimlich verzweifelt darum, ihn noch eine Weile hinhalten zu können.
Der Druck der Finger zwischen ihren Beinen wurde härter und fordernder, und sie spürte, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. »Es ist so dunkel«, sagte sie, unterdrückte einen Schmerzenslaut und fragte lockend: »Willst du mich dabei nicht ansehen?«
Der Krieger knurrte unwillig, aber er löste den Griff und versetzte Faizah einen Stoß, der sie ein paar Schritte auf das Tor zutaumeln ließ. »Geh!«, befahl er, deutete auf die Karren mit den Tontöpfen, die neben dem Lehmziegelbau standen, und trieb sie vor sich her durch das Tor des Gefangenenlagers. Am frühen Abend waren drei Gespanne angekommen. Wie so manches Mal waren die Uzoma, die die Gespanne führten, nach dem Beladen nicht gleich aufgebrochen, sondern mit zwei großen, mit Ecolu gefüllten Schläuchen in dem Lehmziegelbau verschwunden.
Das flüssige Feuer in den Töpfen warf einen rötlichen Schein. Der Krieger packte Faizah am Arm und zerrte sie mit sich auf die Karren zu. Als sie den Lichtschein erreichten, wollte er sie an sich ziehen. Doch Faizah befreite sich mit einer raschen Drehung aus seinem Griff, umrundete die Karren und wartete, dass der Krieger ihr folgte. Ein kurzer Seitenblick bestätigte ihr, dass ihr die Wagen und das Lehmziegelgebäude eine gute Deckung boten und sie vor unerwünschten Blicken schützten. Eilig hockte sie sich auf den Boden, zog das Messer aus dem Saum ihres schäbigen Kittels und verscharrte es eilig unter dem losem Sand.
Gleich darauf war der Krieger bei ihr. Drohend baute er sich im flackernden Schein der
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