Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Cari und wurde sich zugleich bewusst, dass sie immer noch nicht herausgefunden hatte, wo sie war.
Er fasste sie an den Händen und zog sie hoch. »Warte«, sagte er und nahm die Sonnenbrille ab. Seine schwarzen Augen wirkten ernst. »Nach dem pranzo «, sagte er. »Dann wirst du es sehen.«
Sie hatten zu Mittag gegessen, und wo waren sie jetzt? Cari bekam allmählich den Eindruck, als seien ihr die Pläne für den Tag entglitten – dabei hatte sie im Grunde gar keine gehabt. Ich habe jegliche Kontrolle über mich verloren, schalt sie sich, schon beim Kuss gestern Nacht.
Die Mahlzeit mit Marco war ein einziger Genuss gewesen. Sie hatten cozze alla marinara bestellt – gekochte Muscheln mit Zitronensaft und Petersilie und knusprigem Brot – und dazu einen herrlichen Prosecco getrunken – Cari vermutlich ein Glas zu viel. Heikle Themen wie Dan, England oder Marcos Familie hatten sie erfolgreich umschifft. Stattdessen hatte Marco ihr von seinem Lebenstraum erzählt. »Ich möchte ein eigenes Restaurant eröffnen«, sagte er. »Aber nicht irgendein altes Lokal.«
»Wirklich?«, entgegnete sie sowohl neckend als auch erfreut, dass sich Mr Misterioso endlich redseliger zeigte und sie etwas über ihn erfuhr.
»O nein«, antwortete er. »Es wird das beste Restaurant von Ligurien sein.«
Ligurien … Seltsam, wie sehr er an dieser Gegend hing! Während viele Menschen in England ihren Geburtsort verlassen wollten, um frei zu sein, zu reisen und ihre Zelte an einem anderen Ort aufzuschlagen, schienen die Italiener unendlich eng mit ihrer Heimat verbunden zu sein.
»In meinem Restaurant«, fuhr Marco fort, während er eine pralle Muschel aus der Schale löste und sie Cari entgegenhielt, »werden die Muscheln mit Thunfisch, Weißwein, Mortadella, Pecorino, Ei und Majoran gefüllt.« Er legte die Finger an die Lippen und vollführte eine Geste der Verzückung.
»Klingt köstlich.« Cari öffnete den Mund und kostete das schmackhafte Häppchen. Von einem anderen Menschen etwas Essbares anzunehmen, etwas aus seinen Händen entgegenzunehmen, ist eine sehr intime Gebärde, dachte sie.
»Ist es auch.« Ernst nickte er ihr zu. »Die Zubereitung erfordert viel Geduld. Jede rohe Muschel muss Stück für Stück geöffnet werden.«
Obwohl Cari schon immer die Meinung vertrat, dass das Leben selbst zu kurz sei, um gefüllte Champignons zuzubereiten, hätte sie nichts dagegen, wenn jemand ihr diese Arbeit abnehmen und sie mit dem Ergebnis füttern würde. Sie bemühte sich, nicht auf seine langen, sonnengebräunten Finger zu sehen, während er Muscheln aus den glänzenden Schalen löste.
»Es ist ein altes ligurisches Rezept«, erklärte er.
Das hatte sie bereits vermutet.
Nach dem pranzo waren sie eine Weile die Küstenstraße entlanggefahren, durch heiße, während der Siesta ausgestorben wirkende Dörfer mit geschlossenen Fensterläden, vorbei an Hängen mit Kastanienbäumen, wilden Schwertlilien und Ginster, bis der Maserati schließlich in der Einfahrt zu einer Villa mit roten Fensterläden und altrosa gestrichenen Hauswänden mit bleiverglasten Fenstern und einer halb verfallenen Steinbalustrade parkte. Aha! Cari blickte aus dem Fenster. Alles wirkte ziemlich ungepflegt. Ihr schwante nichts Gutes. Wo waren sie eigentlich?
»Das Haus gehört einem Freund von mir«, erklärte Marco beiläufig, als er ihr die Wagentür aufhielt.
Mmm. Was wollte er ihr damit sagen?
»Tritt ein!«, forderte er sie auf und schwenkte einen Hausschlüssel zwischen Zeigefinger und Daumen.
Hatte er das geplant? Cari zögerte. Vergangene Nacht hätte sie ihm so vertraut, dass sie ihn sogar in ihr Bett gelassen hätte – falls Vertrauen überhaupt das richtige Wort wäre. Aber jetzt … Das war eine völlig andere Situation. Plötzlich war sie sich bewusst, dass sie sich in einem fremden Land aufhielt, dessen Sprache sie nicht beherrschte, und im Begriff war, ein fremdes Haus zu betreten mit … Und? Vertraute sie Marco?
Ihr fiel die Szene ein, die sie in Tasmins Tagebuch gelesen hatte. Ihre Mutter hatte von ihrem Salsa-Unterricht berichtet und vom dem Moment, in dem es »Klick« gemacht und sie gespürt hatte, dass sie sich darauf einlassen musste.
Es entsprach weder Caris Wesen noch dem ihrer Mutter, sich blindlings mitreißen zu lassen, aber sie hatte trotzdem weitergelesen …
Es ist der Augenblick, in dem du die Entscheidung fällst, dich all dem auszuliefern , hatte Tasmin geschrieben. Das bedeutet keineswegs, die Kontrolle zu
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