Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
wirkte fast, als habe er Cari absichtlich gemieden. Aber wie war das möglich? Er wusste doch nicht einmal, dass sie existierte.
»Ciao, Relia.« Braungebrannt und lässig schlenderte er auf sie zu. Er trug khakifarbene Bermudashorts und ein Baumwollhemd mit offenem Kragen und hochgekrempelten Ärmeln.
»Wo bist du bloß gewesen?«, beklagte sich Aurelia und gab ihm einen Kuss. »Ich wusste gar nicht, dass du wieder weg wolltest. Du hast gesagt …«
»Was für eine Begrüßung!« Er schlang einen Arm um ihre Schultern und drückte sie herzlich. »Ich habe Papa angerufen und ihm gesagt, wo ich bin und wann ich zurückkomme. Redet ihr zwei nicht mehr miteinander?«
Aurelia schwieg. Getrennte Betten , dachte sie. Nachdem Cari am Morgen gefahren war, hatte sie ihr Bett in dem kleinen Dachzimmer neben ihrem Atelier aufgeschlagen. Die Verrückte unterm Dach? Hm. Nun gut. Wenn man schon dabei war, dann nicht nur getrennte Zimmer, sondern gleich getrennte Stockwerke.
Stefano betrachtete sie prüfend.
Sie blinzelte zu ihm hoch. Er stand außerhalb des Schattens, den die Pergola warf, im strahlenden Sonnenschein. Er würde einen guten Vater abgeben, dachte sie. Zum Beispiel würde er sofort erkennen, wenn eines seiner Kinder log.
»Ich verstehe das als ein Nein.« Er ließ den Arm fallen und setzte sich neben sie. »Also, wo ist er? Weißt du es?«
»Natürlich«, antwortete Aurelia energisch, um ihre Verwirrung zu verbergen. »Er bringt Cari zum Flughafen und wird erst gegen …«
»Cari?« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er verschränkte die Arme und musterte sie fragend.
»Ach, Stefano …« Sie beugte sich über den Tisch und ergriff seine Hand. »Ich habe dir ja so viel zu erzählen. Cari ist meine Enkelin. Sie ist einfach so hier aufgetaucht, kannst du dir das vorstellen?«
»Was hatte sie hier zu suchen?«
Warum war er plötzlich so schlecht gelaunt?
»Na, mich natürlich.« Aurelia lachte in sich hinein. »Und ich wusste nicht einmal, dass ich eine Enkelin habe.«
Das eintretende Schweigen wurde nur durch das entfernte Dröhnen des Verkehrs auf der Küstenstraße, das leise Rauschen der Wellen, die sich in der Bucht brachen, und das Summen der Bienen unterbrochen, die den Lavendel umschwirrten. Stefanos Blick wanderte zum Labyrinth. Für einen Moment schloss Aurelia die Augen. Die Luft roch heute süß und frisch, die Meeresbrise salzig und unverbraucht. Dachte Stefano an seine Mutter? Aurelia hatte sich geirrt: Catarina hatte das Labyrinth nicht verlassen, im Gegenteil, ihre Präsenz und ihre Kraft waren inzwischen noch stärker spürbar.
Stefano schien einen Entschluss gefasst zu haben. Er stand auf. »Dann sollte ich dich wohl zum Mittagessen ausführen«, schlug er vor. »Dabei kannst du mir alles erzählen.«
Im Café von Tellaro bestellten sie beide Pesto alla Genovese – ein köstliches Nudelgericht mit Pinienkernen, Parmesan und Pecorino – und ein kaltes Bier. Sie saßen auf der Piazza an einem der Tische im Schatten eines Sonnenschirms. Der pink- und lachsfarbene Oleander in den Kübeln trug die ersten zarten Blüten.
»Und sie ist urplötzlich aufgetaucht, diese …« – Stefano zögerte – »… deine Enkelin.«
»Aus heiterem Himmel.« Und obwohl Cari ebenso unvermittelt verschwunden war, vertraute Aurelia darauf, dass sie zurückkommen würde. Sie wusste, Cari hatte nicht gehen wollen, aber sie musste einem Freund helfen, der in Not war. Das bin ich ihm schuldig , hatte sie gesagt. Ich habe ihn schon genug enttäuscht.
»Ich nehme an, deine Enkelin lebt in England?« Stefano klang sehr förmlich – fast als würde er sie verhören. Er war wirklich in einer eigenartigen Stimmung.
»Ja, in Brighton.« Sie hatte ihm ein wenig über Tasmin und Richard erzählt. Ihrer Erfahrung nach konnten sich Italiener nur schwer vorstellen, dass Familien auseinanderbrachen, dass sich Menschen, die blutsverwandt waren, jahrelang nicht trafen oder einander sogar nie begegneten.
»Aber wie hat sie dich gefunden?« Sie hörte den Zweifel in seiner Stimme. Er war doch nicht eifersüchtig darauf, dass sie noch anderweitig Familie besaß, abgesehen von seiner Familie, den Bianchis?
»Über einen Freund von ihr«, entgegnete sie. Sie beobachtete, wie die Inhaberin des Obst- und Gemüseladens ihre Kisten mit dem leuchtend bunten Gemüse einsammelte und hineintrug. Bald würde sie für eine Weile die Rollläden herunterlassen. Zeit für die Siesta.
»Sì?«
Aurelia ließ sich von seinem
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